Ich bin gar nicht nett. Ich bin sogar richtig gemein. Nein, keine Zicke, viel schlimmer noch! Ich habe nämlich eine ausgeprägt sadistische Ader. Und wenn du jetzt glaubst, dass ich am liebsten meine Figuren quäle, dann liegst du falsch. Denn am liebsten foltere ich meine Leser. Und meine liebste Methode? Schlafentzug 😉 Das Werkzeug dafür? Der Cliffhanger.

Weiter, immer weiter

Schon seit einiger Zeit zeige ich dir, wie du deinen Leser immer tiefer in den Text und die Illusion hineinziehst. Du weißt, wie du geniale Dialoge verfasst, du kannst mit Adjektiven und Verben Stimmung erzeugen. Nur dummerweise hat es die Natur so eingerichtet, dass wir zwischendurch mal essen und schlafen müssen. Die Gesellschaft verlangt, dass wir unsere Brötchen verdienen oder soziale Kontakte pflegen. Ein richtiger Pageturner schafft aber eine Parallelwelt, in der unser reales Leben zweitrangig ist. Wenn du in einen Pageturner abtauchst, dann sind dir solche Notwendigkeiten lästig, du willst um keinen Preis aus der fiktiven Welt auftauchen und die Lektüre unterbrechen.

Schreiben kostet Zeit, Lesen auch

Wenn es zwischen dem Anfang des Buches und seinem Ende keinen bedeutenden Unterschied gibt, wirst du 90 % der Leser nur ihre Zeit stehlen. Leser rächen sich dafür, dass du ihre Zeit vergeudest. Sie decken dich mit 1- oder 2-Sterne-Rezensionen ein, reden schlecht über dein Buch und beim nächsten werden sie sich gut überlegen, es zu kaufen. Am Ende bist du es, der seine Zeit verplempert hat. Mit dem Schreiben eines Buches, das keiner zu Ende liest.

Die simpelste Methode, deinen Leser bei der Stange zu halten, ist der Spannungsbogen, und mit ein bisschen Sorgfalt und Überlegung hast du diesen Bogen schnell raus. Der Trick ist, dass eine Veränderung stattfinden muss, und zwar eine, die der Leser nicht schon auf Seite 2 ahnt. Deshalb kann man mich beispielsweise mit dem 08/15-Plot von historischen Romanen jagen. Zeig mir eine Hebamme oder eine andere Underdog-Frau, einen gut aussehenden, edlen Ritter, und ich sage dir, wen der Priester am Ende des Buches traut. Das ist kein Spannungsbogen, der mich am Einschlafen hindert.

Bis in die kleinste Einheit

Nun verkaufen sich solche Bücher aber trotzdem recht gut, ebenso wie Chicklit und leichte Liebesromane. Warum? Der Grundplot ist immer gleich, aber der Weg von A wie Anfang nach E wie Ende ist unterschiedlich. Wenn du den Hauptspannungsbogen also in lauter Minispannungsbögen aufteilst, dann weckst du Neugier. Jede kleinste Einheit in deinem Roman sollte Neugier auslösen, jede Szene, jeder Dialog sollte eine Ausgangssituation, einen Höhepunkt und ein Ende haben, das neue Voraussetzungen schafft. Wie du das im Dialog hinbekommst, haben wir ja schon mal besprochen.

Von Absatz zu Absatz

Schaffst du es, mitten im Fließtext aufzuhören? Ich nicht. Ich will ein Kapitel fertiglesen. Wenn ein Kapitel zu lange ist, eine Szene. Und wenn auch die Szene zu lange dauert, zumindest einen Absatz. Unterteilungen sind enorm wichtig, sie helfen deinem Leser, seinen Lesefluss zu strukturieren, sie portionieren den Text in verdaubare Häppchen. Suggeriere ihm, dass er jederzeit unterbrechen kann, dann hältst du die Einstiegshürde niedrig.

Nichts ist quälender als Neugier

So niedrig die Einstiegshürde ist, so schwierig solltest du deinem Leser den Ausstieg machen. Wenn du lieb zu ihm bist, dann nimmst du ihn mit beim Anstieg vom Anfang bis zum Höhepunkt der Spannung und lässt ihn dann sanft zum Kapitelende gleiten. Aber wir wollen ja nicht lieb sein. Wir wollen es unserem Leser unmöglich machen, das Buch zur Seite zu legen. Er soll sich ärgern, wenn er aus der Straßenbahn aussteigen und ins Büro hineingehen muss. Er soll das Fernsehprogramm getrost dem Rekorder anvertrauen oder überhaupt vergessen. Und wozu bitteschön braucht der Mensch Schlaf? Das Einzige, was er braucht, ist das Wissen wie es weitergeht!

Trenne Kapitelgrenzen vom Spannungsbogen

Theoretisch bietest du deinem Leser bequeme Möglichkeiten, den Text zu unterbrechen, praktisch verführst du ihn dazu, dass er das nächste Häppchen anknabbert. Er hat den Spannungsbogen gerade gelesen, aber jetzt gibst du ihm eine Kostprobe des nächsten. Den Anfang eines Spannungsbogens legst du daher nicht auf den Anfang eines Kapitels, sondern ans Ende des vorhergehenden. Und damit animierst du deinen Leser, über die Kapitelgrenze zu springen und weiterzulesen.

Mehrere Szenen, ein Spannungsbogen

Eine Alternative ist, den Spannungsbogen nicht vollständig aufzulösen. Am Ende der Szene oder des Kapitels ist also ein Teilaspekt noch ungelöst. Und dieses Rätsel will dein Leser natürlich auch noch lösen, und schon ist er im nächsten Kapitel, wo du die Spannung dann rasant ansteigen lässt. So hängst du Loop an Loop, ein Verfahren, das du dir von TV-Serien-Drehbuchautoren abschauen kannst.

Der Cliffhanger beim Perspektivwechsel

Dieses Verfahren empfinde ich persönlich als ganz besonders fies, und interessanterweise beobachte ich es nicht einmal so sehr bei ausgesprochener Spannungsliteratur, sondern bei Autoren, die nicht gerade auf Thrill setzen. In den Romanen von Elizabeth George etwa findest du zahlreiche Beispiele dafür. Erst darfst du in eine Figur so richtig tief eintauchen, du entwickelst Sympathie für sie, fühlst selbst, was ihr unter den Nägeln brennt, und dann kommt der Cliffhanger. Nur ist die Autorin nicht so gnädig, die Szene im nächsten Kapitel fortzuführen, sondern sie beginnt eine ganz andere Szene mit einer ganz anderen Perspektive und vor allem einem ganz anderen Handlungsstrang.

Ein zweischneidiges Schwert

Dieser typische Cliffhanger, also ein Moment, wo du als Leser am Höhepunkt der Spannung im wahrsten Sinn des Wortes hängen gelassen wirst, hilft mir zwar über die Kapitelgrenze hinweg, aber dann bin ich frustriert. Indem der Autor mich in die Warteschleife hängt, reißt er mich nämlich aus der Illusion heraus. Zwar tauche ich schnell wieder in die nächste ein, aber dann geht das unbefriedigende Spiel wieder von vorne los. Aus meiner Sicht bringt das nur etwas bei verschiedenen aber gleichrangigen Erzählsträngen und gleichwertigen Protagonisten. In diesem Fall ist der Cliffhanger ein recht geschicktes Mittel, Szenen in einem nicht linearen Plot zu verketten.

Ende gut, gar nichts gut?

Eine Stelle gibt es, wo ein Cliffhanger aber absolut nichts verloren hat, und das ist das Ende eines Romans. Am Schluss des Romans müssen alle Spannungsbögen abgeschlossen und alle Fragen beantwortet sein. Was innerhalb einer Geschichte funktioniert, ist an ihrem Ende tödlich, nämlich den Leser mit ungelösten Spannungen und unbeantworteten Fragen zu verabschieden. Ein Cliffhanger am Romanende wäre wie ein Koitus interuptus, und so weit willst du die Folter auch wieder nicht treiben, oder? 😉

Der Marketing-Gag bei Serienbildung

Wenn du Figuren geschaffen hast, die dem Leser und dir ans Herz wachsen, dann ist die Verlockung groß, sie in Fortsetzungen weiterhin zu verwenden. In diesem Fall spannt sich über die ganze Serie ein gigantischer Handlungsbogen. Du kannst beispielsweise in einem Thriller andeuten, dass ein wichtiger Gegenspieler entkommt. Du kannst einen neuen Konflikt deines Helden andeuten. Betonung auf neu und auf Andeutung. Das soll ein Teaser sein, nicht mehr. Und wenn es der erste Band einer Serie ist, dann darfst du deinem Leser ruhig verraten, dass du eine Fortsetzung planst.

Offenes Ende statt Cliffhanger

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich mag offene Enden. Einen Schluss, der die Fantasie des Lesers anregt und Raum für Spekulationen gibt. Diese Spekulationen betreffen jedoch niemals die eben erzählte Romanhandlung sondern immer die Zukunft. Ein offenes Ende ist eine sogenannte Leerstelle, die der Leser mit seinen eigenen Vorstellungen und Gedanken füllen kann. Er kann also die Spannung aus eigener Kraft auflösen. Lässt du ihn jedoch mit einem gekappten Spannungsbogen im Regen stehen oder mit einer ungelösten Frage gegen eine Wand laufen, ist er zu Recht sauer. Das ist kein offenes Ende, sondern Schlamperei.

 

Im Grunde genommen sind wir doch nicht so böse Mädchen und schlimme Buben. Folter kann durchaus süß sein, und deine Leser werden dich dafür lieben, dass du sie den Alltag vergessen lässt. 🙂 Trage sie von Szene zu Szene, von Kapitel zu Kapitel und lass ihre Herzen so richtig fest klopfen!

Alles Liebe, viele Leser, die an den Nägeln kauen, wie es weitergeht! Und wie immer viel Spaß beim Schreiben!

ls-unterschrift

 

Bild: © kantver – Fotolia.com