Verkrampft es dir den Magen, wenn du von Plotten hörst? Fühlst du dich sofort in deiner dichterischen Freiheit eingeschränkt? Das verstehe ich sehr gut, denn viele Kreative lassen sich nur ungern in ein Korsett pressen. Als solches empfinden sie nämlich jede Art von Struktur, und mag sie noch so hilfreich sein. Wenn du trotzdem sicherstellen willst, dass dein Roman einem roten Faden folgt, wenn du deinen Lesern einen vernünftigen Aufbau bieten und dir Irrwege ersparen willst, dann ist die Schlüsselstellen-Methode genau das Richtige für dich.
Inhalt
Bauchschreiber oder Plotter. Oder ein Zwischending?
Ok, es gibt begnadete Bauchschreiber, die sogar Berühmtheit erlangt haben. Stephen King ist bekennender Bauchschreiber, der nicht plottet. Wie sein Überarbeitungsprozess aussieht, weiß ich allerdings nicht. Es gibt Autoren, die lassen sich von Einfall zu Einfall tragen und wenn sie Glück haben, kommt etwas Passables dabei heraus. Wenn sie Pech haben, schreiben sie ihren Roman ein zweites Mal.
Es gibt auch akribische Plotter, die ihren Roman auf dem Reißbrett entwerfen und erst hinterher schreiben. Auch das muss einem liegen, mir persönlich kommen da gerne meine Figuren dazwischen, weil sie sich auf überraschende Weise entwickeln und plötzlich Dinge tun wollen, die ich nicht vorhersehen konnte.
Aber zum Glück gibt es ja auch noch etwas dazwischen. Die Zwitterwesen unter den Autoren, Planer, die trotzdem ihrer Inspiration folgen. Und ich glaube, das sind gar nicht so wenige. 😉 Aber wie gehen die sinnvoll vor?
Was dein Roman mit einer Steilwand zu tun hat
Es ist genauso wie wenn du vor einer schwierigen Steilwand stehst. Natürlich kannst du drauf los klettern. Du suchst dir den ersten Felsvorsprung, das geht noch sehr leicht, weil du voll Enthusiasmus bist. Zum nächsten kommst du auch noch ohne Mühe, aber du siehst immer nur die nächsten zwei, drei Schritte. In der Mittagshitze hängst du dann mitten in der Wand, jetzt sind es fünf mögliche Griffe auf einmal, welchen davon sollst du nehmen? Am Nachmittag irrst du nur mehr umher, und wenn die Dämmerung einsetzt, seilst du dich erschöpft ab, ohne den Gipfel auch nur von ferne gesehen zu haben.
Wie du zum Gipfel kommst – Die Schlüsselstellen-Methode
Abends in der Hütte hast du gerade beschlossen, morgen einen zweiten Versuch zu starten, da hörst du zwei andere Kletterer von der schönen Aussicht dort oben schwärmen. Und wenn du sie fragst, wie sie dorthin gekommen sind, dann hast du bereits den ersten Teil eines Plans erkannt. Auch deine Kletterkollegen planten nicht in der Hütte jeden einzelnen Griff durch, aber sie teilten sich Etappen ein. Sie wussten, wo sie starten, welche Zwischenstopps sie erreichen wollen, sie kannten die Hauptrichtung und wussten, wo der Gipfel liegt.
Du kannst in deiner Roman-Steilwand planlos herumklettern und die Schönheiten genießen, die dir zufällig über den Weg kommen. Dann genießt du die Freiheit und pfeifst aufs Ziel. Doch „Der Weg ist das Ziel“ mag ja ein eingängiger Slogan für eine Autowerbung sein, aber nicht für einen Roman. Wenn du nur um des Schreibens willen schreibst, dann befriedige diese Lust an einem Tagebuch oder an Morgenseiten.
Wenn du einen Roman schreiben willst, lege zumindest die grobe Richtung fest und suche dir vorab Anhaltspunkte, sogenannte Schlüsselstellen. Das sind die Stellen, auf die du hinfieberst, auf die du zuschreibst und die später deinen Lesern als beeindruckende Wendepunkte in Erinnerung bleiben werden.
Fang mit dem Schluss an!
Eine Steilwand wirst du nur erklettern, wenn du an ihre Spitze willst. Alles andere wäre dumm, du könntest nämlich viel bequemer um sie herum gehen. Diese Spitze oder besser gesagt das Ende solltest du auch bei deinem Roman kennen. Damit meine ich nicht, ob der Held stirbt oder nicht, ob der Fall gelöst wird oder nicht oder ob die Liebenden zueinander finden. Das kannst du einstweilen offen lassen. Es geht um die Schlussszene.
Als ich anfing, Das Gift der Schlange zu schreiben, kannte ich den Showdown bereits. Ich dachte, dass er anders ausgehen würde, doch während des Schreibens kristallisierten sich drei mögliche Enden heraus. An der Szene als solcher hat sich jedoch nichts geändert, ich ließ mir die Freiheit der späten Entscheidung, wusste aber, auf welches Setting ich hinschreibe. Bei der Fortsetzung ist das anders, hier bedingt gerade die Wahl, die meine Figuren treffen, den intensiven Höhepunkt.
Male dir möglichst detailliert aus, wie der Showdown abläuft, du kannst ihn sogar in einem Rohentwurf festhalten. Entwirf die Situation, lege fest, vor welcher Wahl deine Figuren stehen. Und denke vor allem in Bildern und Szenen! Die Aufklärung des Mordes in einem Krimi kann auf unendlich viele Weisen geschehen. Hörst du einen bestimmten Dialog? Dann schreib ihn nieder, ebenso Gefühle und Stimmungen. Das gilt ebenso für das prinzipiell vorhersehbare Ende in einem Liebesroman. Nicht dass, sondern in welcher Situation sich dein Liebespaar in die Arme fällt, ist der Höhepunkt deines Romans.
Starte am Beginn und nicht irgendwo
Wie willst du jemals den Gipfel erreichen, wenn du nicht einmal weißt, von wo du aufbrichst? Überlege dir, wo deine Geschichte tatsächlich beginnt. Das geschieht nicht in grauer Vorzeit oder bei der detaillierten Beschreibung eines Schauplatzes oder des Wetters, sondern da, wo eine Handlung ausgelöst wird. Wo eine Figur etwas will und daran geht, das auch zu erreichen. Wenn du einen Leser nicht mit der Eröffnungsszene fesselst, kommt er gar nicht zu den weiteren Stellen, hier ist also dein ganzes Können gefragt.
Entwirf eine packende Handlung und spiele sie durch. Langsame Einleitungen locken keine Katze hinter dem Ofen hervor, es muss sofort etwas auf dem Spiel stehen! Auch hier male dir eine Szene aus, bis du sie richtig fühlst. Die ersten Seiten kannst und wirst du vermutlich noch oft ändern, doch die Einstiegs-Szene selbst solltest du bereits mit jeder Faser erleben.
Mal dir die Wendepunkte aus!
Das sind die Zwischenstopps in deiner Steilwand, die Stellen, die du erreichen musst, um von dort aus die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Der Name Wendepunkt sagt es schon, hier passiert etwas Gravierendes, das die weitere Handlung beeinflusst. Das sind Points of no return, hinter sie kannst du und vor allem können deine Figuren nicht mehr zurück. Solche Stellen sind so wichtig, dass sie dem Leser auffallen müssen, über sie darf er niemals unbeteiligt drüberlesen. Und deshalb sind das ebenfalls Szenen, die du vorab genau kennen musst.
Wenn du so tickst wie ich, dann hast du bereits ein paar Szenen im Kopf, bevor du überhaupt an einen Roman denkst. Momente, die du dir bis ins Detail ausmalst und die jede Nacht vor dem Einschlafen noch plastischer werden. Die du unbedingt erzählen willst. Das ist genau die Sorte Szenen, die du hier brauchst, sie werden die Gelenke, die Scharniere in deiner Handlung! Du weißt ja bereits, den Leser packst du bei seinem Gefühl, wenn ihm der Atem stockt, das Herz rast, sein Mund trocken wird. Wenn du deine Wendepunkte nicht nur kennst sondern fühlst, dann brennen sie sich in die Erinnerung deines Lesers ein.
Die Intensität ist wichtig, nicht die Anzahl
Wie viele Wendepunkte du brauchst, hängt vom Plotmodell ab, auf das du dich stützt. Plotmodelle sind beispielsweise die Dreiaktstruktur des Hollywoodfilms, der Fünfakter des klassischen Dramas oder die Heldenreise, den Höhepunkt eines Abschnitts markiert jeweils eine Schlüsselszene. Ob du sie Plotpoint I und II, midact climax oder sonstwie nennst, spielt dabei keine Rolle. Und wenn du gar nicht plotten willst, wird dich das auch nicht wirklich interessieren.
Entscheidend ist nicht die Anzahl, sondern dass diese Schlüsselszenen nicht aus der Handlung wegzudenken sind und dass du sie intensiv schreibst. Eine Szene, die dir zwar gefällt, die aber keinen gravierenden Einfluss auf die Handlung hat, die kein Point of no return ist, ist keine Schlüsselszene und schon gar kein Wendepunkt. Sie gehört überhaupt nicht in deinen Roman.
Jetzt hast du alle Freiheiten der Welt
Wenn du nun deine Schlüsselszenen gefunden hast, also auslösendes Moment, Wendepunkte und Showdown, dann hast du genug Richtung, um dich im Weiteren von deiner Inspiration leiten zu lassen. Genieße die spontanen Einfälle, prüfe aber stets, ob sie dich zu deiner nächsten Schlüsselstelle führen oder auf Abwege schicken.
Die Schlüsselszenen-Methode ist übrigens auch Bestandteil des Kurses Der Masterplan – Von der Idee zum Romankonzept. Dort stelle ich dir auch noch andere Plotmethoden und natürlich auch die wichtigsten Plotmodelle vor.
Und jetzt wünsche ich dir viel Freude beim Vorab-Erleben deiner intensivsten Szenen. Und wie immer viel Spaß beim Schreiben!
Bild: © nounours1 – Fotolia.com
Interessantes Thema! Habe mich selbst schon gefragt, wie andere Autoren ihre Geschichten in den Griff bekommen 🙂
Ich selbst hatte bei meinem ersten Buch auf’s Plotten verzichtet… d.h. anfangs… Als aber die Anzahl der Seiten sukzessive angewachsen war, legte ich mir notgedrungen einen Plot der Schlüsselszenen an, um den korrekten zeitlichen Ablauf sicherzustellen und die beteiligten Figuren nicht mehrfach an unterschiedlichen Handlungsplätzen auftauchen zu lassen. Auch Figurenbeschreibungen (Aussehen, Charakter, Herkunft usw.) sind im Laufe des Schreibens entstanden.
Der erste Band meines Fantasy-Romans (Trilogie) hatte schlussendlich einen Umfang von knapp 900 Manuskriptseiten. Ohne Hilfsmittel wie Plotten und Figurenbeschreibungen, Namensübersicht (Länder, Städte, Gebirge…) und einer groben Landkarte hätte ich mich mit Sicherheit verzettelt. Für den Folgeband habe ich von Anfang an einen Plot erstellt, aber recht grob und ausschließlich mit den Schlüsselszenen. Offensichtlich gehöre ich zu der „Zwittergruppe“, die Hilfsmittel nicht um jeden Preis einsetzt, sondern lediglich als Gedankenstütze verwendet. Gehöre ich damit zu den minimal plottenden Freigeistern und Bauchschreibern? 🙂 Egal, wie man es nennt, aber Deine Schlüsselstellenmethode kommt meiner Arbeitsweise am nächsten :-))
LG, Jürgen
Lieber Jürgen,
Ich glaube, deine Erfahrung macht jeder. Auch ich startete in mein erstes Projekt ohne Plot – und dieser Roman wurde letztendlich eine wilde Ansammlung von Einzelszenen, mit gutem Grund habe ich ihn nicht veröffentlicht 😉 Und ja, je umfangreicher ein Roman ist, desto mehr Hilfsmittel braucht man. Das Gehirn ist einfach mit Kreativität beschäftigt, dauern nachschlagen und nach oben scrollen macht einfach keinen Spaß!
Ob du jetzt ein Bauchschreiber, ein Zwitter oder ein minimal plottender Freigeist bist, wir scheinen uns zu verstehen, Kollege 🙂
Liebe Grüße
Barbara
Ich wende diese Methode sehr erfolgreich an. ?
Liebe Marion,
Freut mich, dass es einen weiteren Fan der Schlüsselstellen-Methode gibt! 🙂
Liebe Grüße
Barbara
am einfachsten war bisher die schneeflockenmethode für mich 🙂
Liebe Sara,
Das ist eine interessante Methode, die auch noch Thema sein wird 🙂
Liebe Grüße
Barbara
Hallo Barbara,
das ist ein großartiger Ansatz. Milestones in Form von besonderen Ereignissen zu setzen! Tolle Idee. Mir gefällt die Freiheit, dass noch nicht ALLES klar sein muss.
Früher mochte ich gerne die Fantasy Spielbücher wie „Der einsame Wolf“. Auch dort gab es Schlüsselszenen, zu denen man auf jeden Fall gekommen ist – egal, was vorher und nacher war. Dieses Prinzip auf einen Roman anzuwenden, finde ich super.
Ob das auch für Blogartikel funktioniert? Vielleicht für eine Serie? Muss ich mir mal durch den Kopf gehen lassen…
Danke für einen weiteren inspirierenden Artikel.
Sonnige Grüße -Astrid
Liebe Astrid,
Auf die Idee, dass das Milestones sind, bin ich ja noch gar nicht gekommen, aber du hast vollkommen recht! Und ja, es funktioniert auch für Blogartikel. Zumindest mache ich mir beim Schreiben jedes einzelnen Beitrags erst ein grobes Gerüst, damit ein sinnvoller Aufbau entsteht, und dann erst schreibe ich. Da kommen durchaus noch Gedanken dazwischen bzw. entwickeln sich, weil ich schreibend denke. Nur beim Ende gehe ich anders vor: Im Roman steht das Ende bereits fest, beim Blogartikel noch nicht so ganz. Da gibt es durchaus noch Optimierungsbedarf 😉
Liebe Grüße
Barbara