Warum legen Leser ein Buch nicht zur Seite? Wann kauen sie ihre Fingernägel ab, lassen das Essen kalt werden, schieben die Klo-Pause bis zur Unerträglichkeit hinaus, vergessen rechtzeitig aus Öffis auszusteigen oder bleiben bis ins Morgengrauen wach? Ist es der Spannungsbogen? Der hilft. Ist es der supergeniale Erzählstil? Der beeindruckt oder erheitert, aber fesseln wird er wohl kaum. Es ist auch nicht das interessante Thema, weder im Roman noch im Ratgeber. Es liegt an den Figuren. Ob im Roman oder im Sachtext, es liegt daran, dass Leser sich identifizieren und mitspielen können.

Wissen ist nicht sexy

Denkst du, Leser lesen ein Buch nur deshalb bis zum Ende, weil sie wissen wollen, wie die Geschichte ausgeht? Mir verkrampfte es einmal ordentlich den Magen, als eine Leserin vor meinen Augen zuerst die erste und dann die letzte Seite aufschlug. In einem Roman, der auf Final-Spannung geschrieben ist! Gekauft hat sie ihn trotzdem. Und warum lesen wir manche Geschichten zigmal? Wissen wir nicht längst, wie Schneewittchen ausgeht oder dass James Bond die Welt rettet?

Wissen allein reicht uns nicht, sonst wären uns nämlich Genreromane, deren Ende bereits auf Seite fünf feststeht, schnurzegal. Der Detektiv löst den Mordfall, davon gehen wir aus. Die Heldin bekommt im Liebesroman den charismatischen Kerl (oder alternativ den superanständigen), die Welt wird im Thriller gerettet, ja sogar im Ratgeber wird das Problem zuverlässig gelöst (wäre ja auch irgendwie verfehlt, wenn nicht). Das sind Konventionen, die du als Autor nur mit gutem Grund brechen solltest.

Leser gehen von einem bestimmten Ende aus. Deine Kunst besteht nicht darin, dir ein wahnsinnig originelles Ende auszudenken, sondern deine Leser auf dem Weg zu diesem Ende so in Gefühle zu verstricken, dass sie jede Seite herbeifiebern. Leser wollen die Geschichte nämlich erleben.

Der wichtigste Job deines Helden

Die wichtigste Aufgabe deines Helden ist nicht, die Welt zu retten. Auch nicht, die Frau oder den Mann zu küssen oder was die Handlung sonst noch hergeben mag. Der wichtigste Job deines Helden ist, deine Leser in Gefühle zu verstricken. Klingt kompliziert? Ist es nicht. Weil der Held die Figur ist, in die dein Leser schlüpfen darf und an dessen Stelle er die Geschichte erlebt. Jeder will so sein wie dein Held. Na gut, vielleicht nicht jeder, aber wenn du es richtig machst, auf jeden Fall deine Zielgruppe. Für wen schreibst du dein Buch?

  • Nimm dir ein Blatt Papier oder schlage eine neue Seite in deinem Notizbuch auf.
  • Denke an den Leser, den du begeistern willst.
  • Schreibe alles auf, was diesem Leser an einer Figur gefallen wird und was geeignet ist, damit er sich mit ihr identifiziert.

Würdest du dich mit einem Abziehbild identifizieren?

Stell dir jetzt mal vor, du packst alle Eigenschaften, die du eben aufgeschrieben hast, in eine Figur. Den hochintelligenten schwarzhaarigen Mann mit Sixpacks, markantem Kinn und fotografischem Gedächtnis. In jeder Situation bleibt er absolut cool, seine Gegner lässt er mit Wortwitz auflaufen und das in zwölf Fremdsprachen. Nichts bringt ihn aus der Fassung, warum auch, niemand kann ihm das Wasser reichen. Der Bösewicht kann Karate? Kein Problem, ein Zwei-Tage-Power-Camp, und dein Held hat den schwarzen Gürtel.

Zu unserem Paradebild von einem Mann gibt es auch das weibliche Gegenstück. Entweder blond und blauäugig oder ein rassiger Vamp. Bombenfigur natürlich und hochintelligent, klar, vermutlich mit Doktortitel. Versiert in fünf Kampfsportarten. Männer könnte sie zum Frühstück verspeisen, aber sie ist eh eine ganz Liebe und würde das nie tun. Sie ist das Alphatier in der Befehlskette und wenn sie FBI-Agentin ist, hat sie in Krisensituationen unter Garantie einen etwas zu lauten, blaffenden Kommandoton drauf.

Wenn du solche Figuren in Filmen siehst, erkennst du diese Über-Drüber-Typen sofort, und du kannst Gift darauf nehmen, dass sie in deinem Roman nicht weniger nerven. Identifizieren können wir uns nur mit jemandem, der Ecken und Kanten hat. Und deshalb verpassen wir deinem Helden jetzt ganz schnell ein paar menschliche Züge.

  • Suche dir aus deiner Liste drei Eigenschaften heraus, auf die du keinesfalls verzichten willst. Ein bisschen Spaß darfst du schon haben 😉
  • Und jetzt füge drei Schwächen hinzu. Richtige Schwächen bitte, Schwächen, die deiner Figur das Leben erschweren. Schwächen, die sie angreifbar machen.
  • Definiere die beste Charaktereigenschaft deiner Figur.
  • Definiere die schlechteste, problematischste Charaktereigenschaft deiner Figur.

Spannung entsteht, weil der Held etwas will

Du kannst den genialsten Storybogen entwerfen, aber er bleibt langweilig, wenn dein Leser nicht etwas genauso brennend will wie der Held. Dein Leser schlüpft nicht nur in deinen Helden hinein, sondern er denkt an seiner Stelle, beseitigt Hindernisse mit ihm und löst Probleme.

Eine alte Autorenweisheit lautet: Keine Geschichte ohne Konflikt. Das heißt nicht, dass ständig die Fetzen fliegen müssen, und schon gar nicht, dass nur Action-Kracher Geschichten sind. Es heißt, dass deine Figur etwas will und eine andere versucht, es zu verhindern. Das ist der Motor der Geschichte, aus ihm ergeben sich die unerwarteten Wendungen, die Verwicklungen und in einem Ratgeber die Notwendigkeiten, bestimmte Dinge zu lernen.

Deshalb statte jetzt deine Figur mit einem brennenden Wunsch aus:

  • Was will sie unbedingt erreichen?
  • Wofür würde sie selbst dann kämpfen, wenn sie die friedlichste oder feigste Person auf dem Planeten wäre?
  • Was wäre die absolute Katastrophe für sie?
  • Was will sie um jeden Preis verhindern?

Über die Wahl ihrer Mittel entscheidest du später, jetzt geht es nur darum, was sie so stark motiviert, dass sie nicht aus der Geschichte davonläuft.

Gute Figuren leben auch jenseits der Buchdeckel

Eine Leserin gestand mir einmal, dass sie nachts von meiner Figur träumte. Eine andere lässt meine Hauptfigur auch nach Wochen nicht los. Vor einem Jahr las ich einen Ratgeber über Keynote-Speaking* und weiß heute noch den Namen der Beispielsheldin. Das schaffst auch du! So etwas passiert dann, wenn du als Autor voll in deinen Figuren lebst.

Während du an deiner Figur arbeitest, hörst du auf, als reale Person zu existieren, du bist voll und ganz deine Figur. Du denkst nicht, wie du ein Problem lösen würdest, sondern wie sie es angeht. Du fühlst wie sie, ärgerst dich wie sie, freust dich an ihrer Stelle, hast dieselben sexuellen Vorlieben. Wenn deine Figur ein Kind ist, siehst du vorwiegend Hosenbeine und keine Gesichter, wenn sie ein Maulwurf ist, ist es um dich herum dunkel und du riechst die Erde.

Lass uns doch mal ganz tief in deine Figur eintauchen! Diesen Beitrag schrieb ich ursprünglich im Rahmen einer Weihnachtschallenge und ich forderte die Teilnehmer dazu auf, Neujahrsvorsätze für ihre Figur zu schmieden. Das war die Aufgabenstellung und du kannst sie ja ein wenig abwandeln und generell einen Vorsatz oder Plan für deine Figur formulieren:

  • Schreib nicht mit deiner Stimme, sondern mit der Stimme deiner Figur.
  • Fasse einen oder mehrere (Neujahrs)vorsätze oder verweigere dich.
  • Mache jedenfalls die Haltung deiner Figur zu diesem Thema deutlich.

Damit du dir darunter etwas vorstellen kannst, gebe ich dir ein Beispiel anhand des Marchese, der Hauptfigur in meinen historischen Thrillern:

Ist das tatsächlich Euer Ernst? Glaubt Ihr wirklich, dass ich Vorsätze fasse, nur weil sich das Jahr dem Ende neigt? Ich lasse nicht über mich bestimmen und ich denke nicht daran, aufgrund eines Datums im gregorianischen Kalender damit anzufangen. So wenig wie ich morgen Linsen esse, nur weil Italiener das in der Silvesternacht tun. Was wollt Ihr hören? Dass ich im nächsten Jahr mein Temperament zügle? Wenn es Euch nicht behagt, steht es Euch frei, meine Gesellschaft zu meiden. Ich werde an meinem Leben nichts ändern, aus dem einfachen Grund, dass ich es so führe, wie ich es will. Dass ich aus der Notwendigkeit des Augenblicks heraus handle und dass mich Ehre und Integrität zuverlässig leiten. Ich muss Euch enttäuschen, Madame, ich habe weder die Zeit noch die Muße, mir einen Vorsatz auszudenken, denn ich habe eine Mission zu erfüllen. Diese Mission bringt mich meinem Ziel näher als alle Vorsätze dieser Welt, doch Ihr wisst besser als ich, dass ich über einen Auftrag nicht spreche. Also fragt mich nicht nach meinen Plänen, ich frage nicht nach den Euren.

 

Wenn du noch weitere Inspirationen für eine griffige Figur haben willst, dann kannst du dir gerne den kostenlosen Crashkurs In 60 Minuten zur komplexen Figur herunterladen.

Mit prickelnden Figuren stürzt du dich sicher doppelt so gerne auf deinen Text, und deine Leser können ganz tief eintauchen. Und wenn sie sich so richtig identifizieren, werden sie dein Buch nur sehr schwer zur Seite legen 😉

 

Viel Spaß beim Schreiben!
unterschrift

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