Manche Fragen tauchen mit schöner Regelmäßigkeit in Autorenforen und Schreibcoachinggruppen auf. Eine davon ist die nach der optimalen Kapitellänge. Alte Hasen mögen darüber lächeln und sind dennoch höchst auskunftsfreudig, am Ende hast du zwanzig verschiedene Antworten und bist genauso schlau wie zuvor. Früher habe ich auch in Seitenzahlen geantwortet, jetzt sage ich dir nur: Es kommt drauf an. Und zwar nicht nur bei der Kapitellänge sondern überhaupt bei den großen und kleinen Einheiten in deinem Roman.

Warum sind Kapitel überhaupt wichtig?

Sie geben optisch Struktur. Liest du manchmal literarische Romane? So richtig hardcore, am besten experimentell? Als ich mich durch Tod des Vergil quälte, war schon der elendslange Textschlauch eine Herausforderung für mich, die Buchstabenflut schier überwältigend, erdrückend. Frag mich nicht, wie Vergil letztendlich das Zeitliche segnete, denn ich kam über die ersten hundert Seiten nicht hinaus. Neulich ging es mir genauso mit Schall und Wahn, nur ging ich aus diesem Kampf siegreich hervor. Doch ein Kampf war es wahrlich.

Häppchenkost

So ein Dreihundertseitenkonvolut oder noch dickere Wälzer kann niemand auf einmal durchlesen, ich nehme mal an, auch du freust dich über Pausen. Wenn ich einen Roman beginne, blättere ich zunächst bis zur nächsten Großeinheit — bevor ich mich auf den Inhalt stürze, mache ich mich sozusagen mit der Umgebung vertraut. Kapitel erlebe ich als Meilensteine, ich weiß, wie lange eine Etappe ist, wann ich so in etwa eine Klopause einlegen kann, wann es Pi mal Daumen Futter geben wird, oder ob es sich auszahlt, in der Straßenbahn noch das nächste Kapitel anzufangen. Der Ziegel vor mir wird nicht dünner, aber handlicher. So wie du eine Reihe in mehrere Bände unterteilst, kannst du einen Roman in mehrere Teile zerlegen und die wiederum in Kapitel, in Szenen, in Absätze.

Mit Sinn statt mit Taschenrechner

Wenn du willst, dass Leser deinen Roman verschlingen, dann halte die Einstiegshürden niedrig. Überleg mal, werden Hundert-Seiten-Kapitel nicht vielleicht doch ein klein wenig überfordern?

Konzipiere große Einheiten lieber als Teile, statt als Kapitel. Stelle sie dir wie einzelne Romane innerhalb einer Reihe vor: Wenn du einen neuen Teil beginnst, fängst du eine neue Story oder zumindest einen neuen Abschnitt in der Story an. Du könntest dich dabei an die Akte gemäß deinem Plotmodell anlehnen. Handlungszeiträume wären eine Möglichkeit, Teile abzugrenzen. Schauplätze, Wechsel der Perspektive oder des Protagonisten. Episoden. Versuche aber bitte nichts zu erzwingen, wenn sich Teile nicht anbieten. Teile sollten immer erkennbar Sinn machen, die meisten Romane kommen sehr gut auch ohne diese Einheiten aus.

Zerlege die Handlung in Spannungsbögen

Kapitel unterteilen deine Handlung in Spannungsbögen. Wie jeder Spannungsbogen haben Kapitel einen ansteigenden Konflikt, einen Wendepunkt und eine signifikante Veränderung, die die Handlung vorantreibt. Du merkst schon, ob deine Kapitel drei Seiten haben oder zwanzig, hängt vor allem von deinem Erzählstil ab. Wenn du sehr dicht schreibst, mit maximaler Intensität, die Handlung auf wenig Raum komprimierst, werden sie kürzer ausfallen als wenn du zu epischer Breite neigst. Folge bei der Kapiteleinteilung deinem Instinkt und der Dramaturgie.

Ich achte übrigens darauf, dass meine Kapitel annähernd gleich groß sind – Betonung auf annähernd! – weil dadurch der Rhythmus gleichmäßiger wird, doch wenn du Kapitel willkürlich abteilst und mit Gewalt auf eine bestimmte Wortanzahl hinschreibst, merkt das dein Leser sofort. Also besser mal fünf Seiten kürzer oder länger. Wenn du den Leser in die Story hineinziehst, wird er kaum nachzählen.

Kurz und gut, aber bitte nicht hektisch

In der Kürze liegt ja bekanntlich die Würze, doch bitte achte darauf, ob du wirklich dicht schreibst, oder dich nur mit Behauptungen rausschummelst. Du weißt schon, show, don’t tell! Wenn du nun aber wirklich zu knappen aber aussagekräftigen Bildern neigst, wenn deine Stärke in raschen, pointierten Dialogen liegt, dann werden deine Kapitel vermutlich relativ kurz ausfallen. Bitte blähe sie jetzt nicht künstlich auf, sondern überlege dir eher, ob mehrere Szenen zusammen ein Thema oder einen größeren Spannungsbogen ergeben.

Um Drei-bis-fünf-Seiten-Kapitel zu vermeiden, fasse ich meist drei Szenen in ein Kapitel zusammen, dadurch liest sich der Roman weiterhin schnell, wirkt aber nicht oberflächlich. Dabei gehe ich vom Großen ins Kleine: Beim groben Plotten lege ich das Thema des Kapitels und die Veränderung fest, dann erst breche ich es in zwei bis drei Szenen herunter. Die Szenen trenne ich innerhalb des Kapitels durch eine Leerzeile. Und wenn ich mal eine längere Szene habe, wie eine trickreiche Intrige, eine genüssliche Liebesszene inklusive Verführung, Vor- und Nachspiel und allem Bibapo? Oder eine irre Flucht durch halb Straßburg? Dann ergibt eben mal eine einzige Szene ein komplettes Kapitel.

Verknüpfe die Spannungsbögen

Leser gönnen sich nach einem Kapitel gerne mal eine Pause und legen das Buch zur Seite. Aber genau das willst du ja nicht im Pageturner. Du brauchst also eine Strategie, um sie ins nächste Kapitel zu locken. Die bekannteste ist der Cliffhanger, allerdings ist der auch ziemlich reißerisch und damit nicht für jedes Genre geeignet. Zu viele Cliffhanger nerven nur, wenn du ihre Wirkung erhöhen willst, setze sie eher sparsam ein. Spar dir Effekte grundsätzlich für richtige Highlights auf und gehe ansonsten subtil vor.

Ein Cliffhanger ist ein harter Schnitt, du kannst aber auch die Spannungsbögen verschleifen. Schließe sie nicht mit der Kapitelgrenze, sondern erst in den ersten Absätzen des Folgekapitels. Oder beginne am Ende des Kapitels einen neuen Spannungsbogen. Fädle Spannungsbögen nicht wie Perlen auf eine Kette, sondern verflechte sie wie einen Zopf. Während des Romans muss immer mindestens ein Spannungsbogen offen sein.

Die kleinen Einheiten

Es geht auch noch kleiner als Kapitel und Szene. Strukturiere deinen Text unbedingt in Absätzen. Setze sie da, wo du den Gedankengang wechselst, den Sprecher oder die Stimmung. Durch Zeilensprünge kannst du Pausen erzwingen. Überraschungsmomente erzeugst du effektvoll, wenn du eine neue Zeile beginnst, Nachgeschmack oder Nachhall bleibt, wenn du einen Absatz mit einer präzise gesetzten Aussage beendest. Mach den Deckel nicht zu, sondern öffne Leerstellen, die der Leser selbst füllen muss, lass ihn grübeln! Geh bei Absätzen nach Sinn und nach Klang vor und lies halblaut mit.

Der Rhythmus macht die Musik

Wenn du in Metrik geschult bist oder ein natürliches Gefühl für freie Rhythmen hast, dann spiele damit. Ich neige beispielsweise zu mittellangen Absätzen, aber Kampfszenen schreibe ich gerne länger durch. Damit verhindere ich das minutiöse Mitdenken des Lesers und lasse ihn das Tempo und das Instinkthafte an einem Kampf miterleben. Ich verschleife in manchen Szenen die Sätze, um dem Leser die Struktur unter den Füßen wegzuziehen, ich bringe ihn außer Atem und damit in den Flow.

Flotte Dialoge

Umgekehrt bestehen meine Dialoge meist aus sehr schnellen Wechselreden. Die Figuren liefern sich einen präzisen Schlagabtausch, statt zu schwafeln und halbe Reden zu schwingen. Hier muss der Leser hellwach sein, er darf den verbalen Schlagabtausch genießen. Im Schriftbild hast du dann viele Zeilenumbrüche, weil du mit dem Sprecher auch stets die Zeile wechselst. Du erkennst also schon an der äußeren Form des Dialogs, ob er sich voraussichtlich schnell und pointiert lesen wird.

 

Gib deinem Leser optisch Struktur, um ihm den Leseakt so einfach wie möglich zu machen. Je weniger er sich anstrengen muss, desto tiefer kann er in die Geschichte eintauchen, deine Sprache genießen und mit den Figuren mitleben. Und lass dich nicht durch Seitenzahlen oder Wordcounts stressen, sondern von der Story, der Dramaturgie und deinem Erzählstil leiten.

Viel Spaß beim Schreiben!

Deine Barbara
PS: Wenn du mehr über Plotmodelle und Dramaturgie erfahren willst, dann sieh dir mal den Kurs Der Masterplan an. Du kannst jederzeit einsteigen.

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