»So ist sie nicht! Du lässt dich nicht auf meine Figur ein.« Diesen Vorwurf durfte ich mir neulich von einer Autorin anhören, deren Thriller ich gerade begleite. Ich gebe zu, er hat mich ein wenig getroffen, denn ich bilde mir ein, mich sehr gut auf Figuren einlassen zu können. Auf Figuren, die ich liebe, die ich hasse, dir mir entsprechen oder die mir komplett fremd sind. Der Vorwurf muss mich ziemlich beschäftigt haben, denn als ich am nächsten Morgen aufwachte, kam die Erkenntnis wie ein Blitz: Mist, genau das werfe ich auch meinen Testlesern gerne vor!

Was hat es damit auf sich? Sind wir wirklich nicht in der Lage, Figuren unabhängig von unseren eigenen Erfahrungen zu sehen? Wollen wir ihnen als Leser unsere eigenen Vorlieben und Gedankengänge aufzwingen? Und vor allem, was heißt das für dich als Autor?

Der Leser kann sich nur auf Figuren einlassen, die du ihm vollständig zeigst

Nicht immer liegt das Versäumnis beim Leser. Bist du sicher, dass er alle notwendigen Informationen hat? Dass du ihm die Figur auch tatsächlich in all ihren Facetten zeigst? Für uns selbst ist das Verhalten einer Figur selbstverständlich, wir kennen sie ja von innen und außen. Und egal, wie sehr du versuchst, dich selbst aus der Figur rauszuhalten, es wird nie hundertprozentig gelingen. Genau deshalb ist Kritik an unseren Figuren auch so schmerzhaft, denn irgendwie trifft sie ja auch uns selbst.

Der Leser ist aber nicht du

Dein Leser tickt ganz anders. Er würde einen Widersacher vielleicht nicht anschreien, sondern sich geknickt ins hinterste Eck verkrümeln. Er kaschiert Unsicherheit vielleicht durch saloppe oder besonders derbe Sprüche. Was in deiner Gedankenwelt vollkommen logisch ist, ist für ihn im günstigsten Fall konfus, im schlimmsten schlichtweg bescheuert. Wie soll er nun die Handlungen einer Figur verstehen, die ihm vollkommen fremd ist?

Zieh einen Rahmen auf, damit er sich auf die Figuren einlassen kann

Die Leser, die nur sich selbst in einem Roman wiederfinden wollen, kannst du ohnehin nur durch einen Glückstreffer zufrieden stellen. Die anderen, die empathischen, die sich mit einer Figur identifizieren wollen, werden jedoch immer versuchen, in die Figur hineinzuschlüpfen. Wenn dein Leser aber glaubt, sich in Asterix zu befinden, obwohl du Obelix schreibst, muss er Obelix’ Handlungen als falsch empfinden. Mach ihm also von vornherein klar, in welche Figur er da eintaucht.

1. Gib dem Leser ein Körpergefühl

Damit meine ich keine endlosen Beschreibungen. Schlüpfe selbst in deine Figur und erlebe die Welt durch sie. Kleine, zierliche Menschen nehmen die Welt anders wahr als große, das beginnt schon beim Blickwinkel. Ist die Figur energisch? Dann bewegt sie sich in einer Gruppe viel selbstbewusster als der schüchterne Typ. Ist sie raumfüllend? Spüre ihren Gang, das Tempo und die Größe ihrer Gesten. Wie viel Platz beansprucht sie für sich?

2. Lass die Figur sprechen

Gibt ihre Sprache ihren Charakter wieder? Achte dabei vor allem auch auf die Gedankenrede. Man passt sich vielleicht in der direkten Rede an sein Umfeld an, aber selten in seinen Gedanken. Ist die Figur schüchtern oder verklemmt? Dann wird sie nicht auf einmal verwegen denken. Ist sie der schnoddrige Kumpeltyp? Inszeniert sie sich als Vamp? Dann lass sie auch so denken und begründe Abweichungen gut.

3. Zeig die Figur in ihrem normalen Umfeld

In Ausnahmesituationen ist wohl jeder versucht, sich zu verstellen, authentisch sind wir immer dann, wenn wir uns wohlfühlen oder ein Umfeld gut kennen. Das gilt ebenfalls für Figuren. Findet der erste Kontakt des Leser mit der Figur in einer Ausnahmesituation statt, dann lass die Figur sich selbst über ihr ungewohntes Verhalten Rechenschaft ablegen.

4. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance

Was im täglichen Leben eine Binsenweisheit ist, trifft genauso auf deine Figuren zu. Achte daher ganz besonders darauf, welches Bild du deinen Lesern beim ersten Auftritt der Figur vermittelst. Das kann optisch sein, das kann die Reaktion auf ein Ereignis sein oder ihr Verhalten in einem bestimmten Umfeld.

5. Mach Widersprüche plausibel

Natürlich kann ein falscher erster Eindruck dramaturgisch durchaus gewollt sein. Dann solltest du aber nachher nicht einfach den Schalter umlegen, sondern das Bild sehr bewusst geraderücken. Und zwar so, dass der Leser merkt, hoppla, so ist sie ja wirklich. Dazu schaffst du am besten Kontraste. Kontraste im Tempo, im Dramafaktor, im Milieu. Kontraste, die der Leser deutlich spürt, nicht nur die Figur.

6. Zieh die Charaktereigenschaften durch

Einmal angenommen, deine Figur ist anlehnungsbedürftig und sucht eine starke Schulter. In welchen Situationen wird sie das tun? Die starke Schulter kann der Lover/die Geliebte ebenfalls bieten wie die Eltern oder die beste Freundin. Wenn die Eigenschaft wesentlich ist, aber der/die Richtige erst auftauchen muss, um sie auszuleben, dann lass deine Figur sich nach solch einer Person oder Situation sehnen und zeige ihr Defizit auf. Entscheide dich für eine Handvoll Kerneigenschaften, die immer wieder zum Tragen kommen. Auf diese Kerneigenschaften baue deine Figur auf und lass sie deinen Leser spüren.

7. Wonach sehnt sich deine Figur?

Nein, gib jetzt nicht sofort die Antwort! Frag dich lieber, wie sich diese Sehnsucht in ihren Handlungen und Dialogen zeigt. Unsere anhängliche Figur könnte schusselig werden, das Weibchenschema bedienen oder als Mann Entscheidungen vermeiden. Vielleicht trifft er ja Entscheidungen, weil er muss, dann lass ihn alles mit einem Freund reflektieren. Abends jammert er dann seiner Frau die Ohren voll, bis sie ihn mütterlich in den Arm nimmt, und wenn sie es nicht tut, schwirrt er eben zu seiner Geliebten ab, die ihn endlich versteht. Ich denke, du weißt, was ich meine.

8. Dreh den Spieß um und geh auf Distanz

Sieh dir sicherheitshalber die bereits geschriebenen Handlungen und Dialoge kritisch an. Schlüpf selbst in die Rolle eines neutralen Beobachters und versuche, das Verhalten zu interpretieren. Was siehst du? Was leitest du daraus ab?

9. Nähere dich deiner Figur wie ein Fremder

Das gilt auch für ihre Gedanken. Vergiss einmal, dass du die Figur kennst, von mir aus gib der Figur bei deinem Test einen anderen Namen. Hör ihren Reden und Gedanken zu und notiere dir, welches Bild daraus für dich entsteht. Was hieltest du von deinen Freunden, wenn sie solche Gedanken äußerten? Mach diesen Test aber bitte erst nach dem ersten Entwurf, denn während des Schreibens solltest du deine Figur unbedingt fühlen.

10. Gleiche Selbstbild und Fremdbild ab

Frag deine Testleser, an welchen Stellen genau der für dich falsche Eindruck entstanden ist, woraus sie ihn ableiten. Piesacke sie, dafür sind Testleser da.  Es reicht nicht zu wissen, dass eine Figur anders ankommt, als du willst, du musst wissen, warum, damit du nachjustieren kannst.

11. Suche den blinden Fleck

Johari-Fenster

© By Bernd im MichaelFrey (Own work based on: :Bild:Johari.jpg) [Public domain], via Wikimedia Commons

Im Johari-Fenster wird die Charakteristik einer Person in vier Felder eingeteilt. Es gibt Eigenschaften, die kennt man von sich und zeigt sie anderen. Dann gibt es welche, die man kennt und bewusst verbirgt. Es gibt auch Eigenschaften, die sind einem weder selbst bewusst noch den anderen. Für dich wichtig ist das vierte Feld: Die Eigenschaften, die andere kennen, man selbst aber nicht.

Wenn du die »anderen« nun durch »die anderen Figuren« ersetzt, erhältst du eine ganze Palette an dramaturgischen Möglichkeiten. Ersetzt du sie jedoch durch »meine Testleser«, dann deckst du Aspekte deiner Figur auf, die dir selbst gar nicht bewusst sind. Bitte daher deine Testleser, die Figur mit eigenen Worten zu beschreiben, und wo du auf einen blinden Fleck stößt, frage gezielt nach.

 

Eines vergiss nie: Am Ende bist immer du Herr über deine Figur. Lass dich von (Test)lesern nicht dazu verleiten, eine Figur zu ändern, nur weil die es wollen oder ein anderes Verhalten schlüssiger finden. Aber achte sehr genau darauf, wo und warum falsche Eindrücke entstehen. Denn der Leser kann sich nur auf das einlassen, was du ihm lieferst.

Viel Spaß beim Schreiben!

Deine Barbara