Die Stadt als Hauptfigur. Den Charakter einer Stadt schreiben

Die Stadt als Handlungsort. Den Charakter einer Stadt schreiben

Nicht selten entscheidet der Schauplatz darüber, ob jemand deinen Roman liest oder sich gleich dem nächsten zuwendet. Wie die Genres unterliegen auch gewisse Länder oder Landstriche Moden – oder hältst du es für Zufall, dass Schottland- und Frankreich-Romane gerade boomen? Mit Städten sieht das schon etwas anders aus, Städte überdauern oft solche temporären Hypes. Das liegt daran, dass sie einen komplexen und einzigartigen Charakter haben. Doch wie fängst du den Charakter einer Stadt ein? Wie kannst du eine Stadt schreiben, unverwechselbar, und ihre Vibes transportieren?

Willst du eine konkrete Stadt schreiben, lass sie eine Hauptrolle spielen

Wenn ein Roman in New York spielt, spitze ich sofort die Ohren. Rom und Paris haben für mich auch einen verführerischen Klang, ebenso gute Chancen hat Venedig. Und Wien natürlich, aber da bin ich sehr kritisch. Nicht nur, weil es meine Heimat ist, sondern weil ich oft auf einen ganzen Haufen an Klischees treffe, die meine Stadt nur unzureichend wiedergeben. Als ich Wien als Handlungsort für Shark Temptations* wählte, war mir von Anfang an klar, dass die Stadt eine Hauptrolle spielt und ich ihre ganz speziellen Schwingungen und ihre Persönlichkeit einfangen will. Als Wienerin kenne ich diese Vibes, und die Stadt auf diese Weise zu schreiben, das unterscheidet die Romane von Klischees und Postkartenidylle.

Ganz gleich, ob du deinen Roman in einer realen oder in einer erfundenen Stadt ansiedelst, beziehe ihren Charakter mit ein. Vergiss Google Earth und Reiseführer, wandere nicht beschreibend die touristischen Trampelpfade ab, sondern erschließe dir die Seele der Stadt. Sie nämlich bringt deine Kulisse zum Leben und deinem Roman Atmosphäre.

Die Stadt und ihre Menschen

Die Seele der Stadt ist die ihrer Bewohner

Willst du den Charakter einer Stadt schreiben, beginne bei den Einheimischen. Städte wie New York oder Wien sind wahre Schmelztiegel, in ihnen leben unzählige Nationalitäten. Bei einer einzigen Straßenbahnfahrt in Wien hörst du mindestens sechs verschiedene Sprachen, und dabei rede ich noch gar nicht von den Touristen. Jede Sprache steht für eine eigene Kultur, die sich im Zusammenleben bemerkbar macht.

Als ich das erste Mal in London war, fiel mir neben dem Linksverkehr in erster Linie auf, wie selbstverständlich viele verschiedene Ethnien dort auf engem Raum lebten. Aber leben sie neben- oder miteinander? Verschmelzen die Kulturen zu einer gemeinsamen oder tolerieren sie einander nur? Gib uns genau solche Feinheiten in deinem Roman zu spüren. Und wenn die Stadt deiner Wahl nicht multikulti ist, dann frag dich, warum das so ist. Ist sie vom Rest der Welt abgeschnitten oder wird alles andere schlichtweg unterdrückt und ausradiert? Vielleicht ist auch die gemeinsame Identität attraktiver als die diversen Herkunftskulturen?

Die Stadt und die Anderen

Wie Einheimische mit dem Anderen umgehen, verrät sehr viel vom Charakter einer Stadt. Zeig uns, wie man Migranten begegnet und wie Expats behandelt werden. Ich traue mich wetten, dass es nicht auf die gleiche Weise geschieht. Dass es in jeder Stadt sogenannte gute und schlechte Ausländer gibt. Politisch etwas korrekter ausgedrückt: willkommene und solche, an die man lieber nicht anstreift. Moralisch kannst du dazu stehen wie du willst, doch es sind Tatsachen, die du in deinem Roman nicht ausklammern, sondern nutzen und sichtbar machen solltest.

Das muss nicht einmal etwas mit Globalisierung und Völkerwanderungen zu tun haben. In Kleinstädten beäugt man oft schon Leute aus einem anderen Bundesland argwöhnisch. »Zuag’raste« nennen wir sie in Österreich. Zugereiste, die aus dem Sozialgefüge herausstechen. Wie lange braucht so ein Neuankömmling, bis er wirklich integriert wird? Gerade indem du das Andere auf deine Stadt prallen lässt, kannst du sehr einfach darstellen, wie offen oder verschlossen ihre Bewohner sind.

Wie hoch steht die Stadt in Gunst und Kurs?

Dann gibt es noch die Kurzzeitbewohner, die der Stadt nur eine Stippvisite abstatten. Zieht es die Touristen in Scharen her oder verirren sich lediglich alle heiligen Zeiten ein paar und werden begafft wie eine Rarität? Die Touristen-Medaille hat übrigens zwei Seiten. Lass uns erleben, was die Einheimischen von den Besuchern der Stadt halten, aber auch, wie Touristen hier auftreten und wie sie die hiesige Bevölkerung sehen.

So wie du die Stadt wahrscheinlich wegen ihres Images als Schauplatz gewählt hast, kommen auch Touristen mit bestimmten Bildern und Erwartungen her. Doch das Image einer Stadt zu schreiben ist etwas ganz anderes als ihre Atmosphäre.

Eine Stadt schreiben ist mehr als Sehenswürdigkeiten herunterrattern

Nur lebendig geschrieben zeigt die Architektur den Charakter einer Stadt

Neben den Menschen fällt natürlich vor allem die Architektur ins Auge. Aber bitte tu mir den Gefallen und nimm uns jetzt nicht mit auf die touristischen Trampelpfade! Wenn du die Sehenswürdigkeiten erwähnst, versuche unbedingt, hinter die Postkarten- und Reiseführeridylle zu blicken. Suche die Risse und Brüche, erlebe diese tausendmal geteilten Bilder aus der Sicht einer Person, die sie täglich sieht.

New York ist mehr als das Empire State Building und die Freiheitsstatue, London ist nicht nur die Tower Bridge. In Wien spielt die Ringstraßenkultur zwar eine große Rolle, aber sie macht eben nur einen Teil der Stadt aus. Du konzentrierst dich bei deinen Figuren ja auch nicht ausschließlich auf die Haar- oder Augenfarbe.

Fange das gesamte Stadtbild ein, indem du die Schauplätze schlau wählst. Ist die Stadt nur alt oder nur modern? Ist sie einzigartig oder präsentiert sich hier ein Einheitsbrei, wie du ihn in Dutzenden Städten wiederfindest?

So machst du aus der Architektur Atmosphäre

Die Architektur fängst du am besten ein, indem du sie belebst. Stecke deine Figuren in charakteristische Wohnungen. Wie fühlt sich das Leben in einem Altbau an im Gegensatz zu dem in einem Neubau? In beiden lebt es sich anders als in einem Plattenbau, und selbst der unterscheidet sich gewaltig von den mit Feuerleitern ausgestatteten Backsteinkasernen New Yorks.

Es bleibt dir überlassen, ob du dich für einen einzigen Stadtteil entscheidest oder die ganze Bandbreite zeigst. Das hängt vor allem davon ab, in welchem Milieu dein Roman spielt. Du kannst deine Handlung in Manhattan ansiedeln oder in der Bronx. So richtig anschaulich wird es allerdings, wenn uns deine Bronx-Bewohnerin Manhattan durch die Brille einer Unterprivilegierten sehen lässt. Dann bist du nämlich garantiert nicht in Gefahr, einen Reiseführer zu zitieren.

Den Charakter einer Stadt schreiben heißt, die Rahmenbedingungen zu zeigen

Wo verdienen deine Figuren ihre Brötchen? Was für die Wohnungen gilt, trifft genauso auf den Arbeitsplatz zu. Liegen die Büros in schicken Glaspalästen, in Indrustrievierteln oder in Altbauten? Und wie kommen die Bewohner von ihrer Wohnung in die Arbeit? Verkehr und Grundversorgung fallen uns normalerweise erst dann auf, wenn sie nicht funktionieren, aber gerade sie tragen wesentlich zur Atmosphäre einer Stadt bei.

Warum setzt du deine Figuren nicht einmal in den Bus statt ins Auto? Lässt sie während einer Betriebsstörung in der U-Bahn festsitzen? Vielleicht stehen deine Helden aber auch ewig im Stau und finden dann keinen Parkplatz, weil die Müllabfuhr wieder einmal streikt und die Mistkübel die wenigen Parklücken verstellen.

Ich halte nicht viel davon, deine Geschichte mit Banalitäten zu strecken, in diesem Fall erfüllt der Alltag jedoch einen Zweck. Verwebe die Lebensrealität deiner Figuren mit der Handlung. Nicht in Form einer für den roten Faden völlig irrelevanten Szene, sondern indem du uns die Rahmenbedingungen spürbar machst.

Die Stadt und ihre Geschichte

Die Architektur veranschaulicht oft die Geschichte einer Stadt. Viel wichtiger noch als die Jahreszahl und der Stil der Gebäude ist jedoch der Stellenwert, den die Geschichte bei den Bewohnern einnimmt. Ist die Stadt nostalgisch, zehren die Einheimischen immer noch von längst vergangenen Zeiten. Oder grenzen sie sich bewusst von der Vergangenheit ab und geben sie sich lieber hip? Vielleicht ist díe Geschichte der Stadt aber auch so unspektakulär, dass man hier in einer Art Zeitlosigkeit vor sich hinsumpert. (Auch solche umgangssprachlichen Wörter vermitteln übrigens die Atmosphäre einer Stadt. Du würdest möglicherweise eher dümpeln sagen.)

Wie sie mit der Geschichtsträchtigkeit ihrer Stadt umgehen, hängt natürlich auch sehr stark von deinen Figuren ab. Den einen ist Geschichte wichtig, den anderen völlig gleichgültig. Du kannst also gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und den Charakter und die Bildung deiner Figuren dadurch vermitteln, wie sie zur Geschichte und zum Charakter einer Stadt stehen.

Atmosphäre bekommst du nicht ohne Lifestyle

Lifestyle ist eine Frage der Chancen

Was tut man eigentlich in der Stadt, die du schreibst? Der Lifestyle wird von der Sozial- und Altersstruktur ebenso beeinflusst wie von ihrem durchschnittlichen Bildungsniveau. Wie einfach ist überhaupt der Zugang zur Bildung, ist sie einer privilegierten Schicht vorbehalten oder haben alle die gleichen Chancen?

Möchtest du eine bestimmte Stadt schreiben, informiere dich auch über ihre wichtigsten Wirtschaftszweige. Hängt die Stadt von einer Schlüsselindustrie ab, wie beispielsweise der Stahlproduktion und einer einzigen Fabrik, ist das Leben eng mit dem Florieren dieser Fabrik verknüpft. Da schlagen Krisen sofort auf den Großteil der Bevölkerung durch.

Suchen Menschen die Stadt gerade wegen des Lifestyles?

Kommen Leute gerade wegen beruflicher Möglichkeiten in die Stadt, erforsche ihre Träume und Motive. In die Industriestadt gehen deine Figuren wahrscheinlich, weil es im Umland keine Jobs gibt, nicht weil Fließbandarbeit so berauschend wäre. Aber in manche Städte wollen sie, um sich selbst zu verwirklichen und ihre Träume zu realisieren.

Wie ticken Menschen in Städten mit Hochfinanz wie New York, London oder Frankfurt? In Universitätsstädten oder touristischen Hotspots? In Los Angeles mit der Filmindustrie, in den Modemetropolen Paris oder Mailand? Selbst wenn du eine Stadt erfindest, in unserer realen Welt, in Fantasy oder SciFi, überlege dir immer, für welche Wirtschaftszweige diese Stadt steht. Sie kann beispielsweise von einem bestimmten Handwerk abhängen, vom Hof, vom Handel, dem Militär oder der Politik.

Figuren an charakteristischen Orten statt im globalen Einheitsbrei

Doch in der Stadt werden deine Figuren ja nicht nur arbeiten, obwohl nicht einmal das so sicher ist. Die Freizeit lässt sich ganz anders gestalten, wenn sie aus einem vielfältigen kulturellen Angebot schöpfen können, als wenn sie auf die örtliche Mall angewiesen sind. Kultur kann sich sehr unterschiedlich präsentieren, von der Kleinkunstbühne bis hin zu Theatern mit Weltruf, von der Sparkassenausstellung bis zu Spitzenmuseen. Wer nimmt sie an und wer hat Zugang zu ihr? Nur eine elitäre Schicht oder die breite Masse?

Andere schwören lieber auf Sport und sonstige Vergnügungen. In etlichen Städten können deine Charaktere sich zwischen verschiedenen Sportarten entscheiden, in anderen gibt es einen einzigen Verein, der die Identität der ganzen Stadt stiftet. Wenn sie Glück haben, steht ihnen viel Grün zur Verfügung, andere können nur in Betonschluchten wandeln. Sogar bei der Gastronomie gibt es gewaltige Unterschiede. Diner in einer amerikanischen Kleinstadt, Pariser Bistros, italienische Trattorie, diverse Szenelokale, sie alle erzeugen ein ganz spezifisches Feeling.

Den Charakter einer Stadt vermittelst du in den Details

Ich habe dir hier nur die wichtigsten angerissen, doch es sind unzählige Kleinigkeiten, die den Charakter einer Stadt und das Leben in ihr ausmachen. Genau auf diese Kleinigkeiten kommt es an, damit New York wie New York rüberkommt und nicht wie Grammatneusiedl. Die Hamburg von Berlin unterscheiden und einen Ruhrpott-Roman faszinierend machen können.

Eine Stadt ist wie eine Figur. Du kannst ein Abziehbild schreiben oder in die Tiefe gehen und sie in ihrer schillernden Komplexität zeigen. Eine Stadt vermittelst du am besten unspektakulär und zwischen den Zeilen.

Wenn du eine Stadt schreiben willst, nicht als abgedroschenes Klischee oder leere Hülse, sondern wirklich überzeugend, musst du sie kennen und spüren. Sonst lass lieber die Finger davon und siedle die Handlung an einem namenlosen Ort an. Aber wenn es dir gelingt, die einzigartige Atmosphäre einzufangen und Leser in den Bann dieser Stadt und ihres Charakters zu ziehen, dann werden sie sich noch jahrelang an dieses Gefühl erinnern.

PS: Bist du dir unsicher, wie du den Charakter eines Ortes herausfindest und so zu Papier bringst, dass man ihn auch spürt? Dann komm mit zu Wisdom of Places. Bei diesem Schreibretreat übe ich es mehrere Tage mit dir ein und obendrein verbringst du einen Kurzurlaub in einer der faszinierendsten Städte der Welt.

Wisdom of Places. Wenn der Schauplatz zum Charakter wird (Schreibretreat in Venedig)