Ich wette, du hast in deinem Roman einen Liebling. Eine Figur mit unglaublich viel Charisma. Die Figur, deretwegen du dich immer wieder hinter die Tastatur klemmst und für die du dir halbe Nächte um die Ohren haust. So geht es auch vielen beim Lesen. Wir können nicht genug bekommen von diesem speziellen Charakter, und es lohnt sich daher, ihm ganz besonderes Augenmerk zu schenken. Und bitte, bitte zerstöre dieses Charisma nicht! Denn das geht viel schneller, als du denkst. Dabei ist gerade das Charisma dieser Figur meistens der Grund, warum Leser deinen Roman verschlingen.

Für wen schlägt dein Herz?

Diese Frage kannst du vermutlich wie aus der Pistole geschossen beantworten. Aber weißt du auch, warum du sie so magst? Warum ist sie für dich so besonders? Dieses Besondere ist ihr Herzstück, das darfst du auf keinen Fall antasten. Das kann ein bestimmter Charakterzug sein, ihre Werte, ein Tick, da gibt es so viele mögliche Gründe. Einer sollte es jedoch auf keinen Fall sein: Die Faszination einer Figur besteht nicht darin, eine andere Figur zu lieben. Diese Liebe ist nämlich kein Persönlichkeitsmerkmal.

Wenn dir lediglich wichtig ist, dass die Figur für eine andere da ist, dann interessiert sie dich nur als Krücke, und das spürt man als Leser. Wer begeistert sich aber schon für Gehhilfen? Man nimmt sie dankbar zur Kenntnis, wenn man sie braucht, doch verschwendet kaum einen weiteren Gedanken an sie. Außer, du stattest dieses Hilfsmittel mit einem vielschichtigen, spannenden Charakter aus.

Was macht das Charisma einer Figur aus?

Vor zig Jahren las ich Liebespaarungen* von Lionel Shriver. Noch heute ist mir in Erinnerung, wie souverän und charismatisch sie den Snookerspieler Ramsey schreibt, ohne das Wort Charisma in den Mund zu nehmen. Sie behauptet Ramseys Charisma nicht, sondern zeigt es, und das machte ihn dermaßen eindringlich, dass ich den Charakter immer noch in groben Zügen spüre. Das ist ganz große Handwerkskunst! Wie hat sie das geschafft? Dazu musst du als Autor das Wesen von Charisma erst einmal begreifen. Wie fühlen wir uns in der Nähe einer charismatischen Person? Warum hängen wir an ihren Lippen, saugen ihre vibrierende Energie ein und baden in ihrer Ausstrahlung?

Charisma ist weder angeboren noch fällt es vom Himmel, sondern man muss es entwickeln. Und das gilt natürlich ebenso für deine Figuren. Die für mich überzeugendsten Eigenschaften einer charismatischen Person durfte ich in einem großartigen Vortrag kennenlernen, dessen Zusammenfassung ich dir hier verlinke. Sie enthält zehn Punkte, die dir nicht nur bei deiner eigenen Entwicklung helfen können, sondern auch bei der Ausgestaltung deiner charismatischen Figur.

Höre auf deine Leser

Du kannst Charisma also sehr wohl steuern und deine Leser ganz gezielt für deine Lieblingsfigur begeistern. Achte aber auch auf ihr Feedback, denn es enthüllt dir beeindruckende Facetten deiner Figur, die dir zunächst vielleicht gar nicht so bewusst waren. Wenn du einen Einzelroman schreibst, dann lausche ganz besonders den Rückmeldungen deiner Alphaleser (das sind Testleser, die dich schon während des Schreibprozesses begleiten). An ihren Reaktionen erkennst du, welche Figuren besonders gut ankommen, was sie an ihnen mögen und wo sie sich maßlos über sie ärgern, weil ihr Verhalten sie enttäuscht. Du musst deinen Alphalesern nicht nach dem Mund schreiben, ein Roman ist wahrlich kein Wunschkonzert. Aber du erkennst daran die Gefühle, die sie den Figuren entgegenbringen. Schreibst du einen Mehrteiler oder eine Reihe, dann bekommst du über die Rezensionen und deine Social-Media-Kanäle unglaublich viele solcher Rückmeldungen. Die Leute sagen nie etwas über deine Figur? Dann vibriert sie wahrscheinlich noch nicht und ihr fehlt es noch an Charisma.

Charismatische Figuren sind nie jedermanns Sache

Du kennst sicher einige extrem charismatische Menschen. Barack Obama, Lady Di, Steve Jobs, Martin Luther King, um nur einige zu nennen. Oder charismatische Figuren. Mephisto läuft Faust doch bei weitem den Rang ab. Alan Rickman stattete bei der Harry-Potter-Verfilmung Severus Snape mit so viel Charisma aus, dass ich mir die Filme ausschließlich seinetwegen ansah. Selbst Schurken wie Darth Vader, Miranda Priestley in Der Teufel trägt Prada oder der Teufel in Im Auftrag des Teufels können einen in ihren Bann schlagen. Doch zu jedem der Genannten fallen mir auch Leute ein, die bei ihrer Erwähnung das Gesicht verziehen.

Denn charismatische Figuren brennen von innen und stehen für etwas. Blöd, wenn sich die Werte dieser Figur nicht mit den eigenen decken, dann kommen Figur und Leser manchmal nicht zusammen. Auch meine Lieblingsfigur, der Marchese, hat nicht nur Fans. Aber das ist vollkommen in Ordnung, damit befindet er sich in ausgezeichneter Gesellschaft. Allerweltstypen kann man ignorieren, aber versuch das einmal bei einem Charismatiker 🙂

Wofür steht die Figur, was ist ihre Botschaft?

Eben weil man charismatische Figuren nur mit viel Kraftaufwand ausblenden kann, eignen sie sich hervorragend dazu, deine Botschaft zu transportieren. Es ist doch so verführerisch, diese Figur zu begleiten! Und schon bekommen die Leser etwas von ihren Werten mit. 🙂 Du musst nie die Moralkeule schwingen oder überdimensionale Hinweisschilder in deinem Roman aufstellen – ist das nicht eine großartige Sache?

Die charismatische Figur lebt deine Botschaft, jede ihrer Handlungen und Entscheidungen atmet sie. Wie der Charisma-Trainer Georg Wawschinek sagt: Charismatiker sind keine Dauerquatscher. Sie hören zu, nehmen empathisch die Schwingungen ihrer Mitspieler (und im Idealfall auch die der Zeit und der Leser auf) und handeln entsprechend.

Welche Gefühle soll man deiner Figur entgegenbringen?

Handlung und Emotionen ziehen Leser ganz tief in einen Roman. Was sollen sie nun für die charismatische Figur empfinden, womit willst du sie ködern? Das dürfen gelegentlich auch negative Emotionen sein. Man darf die Figur schütteln wollen, die Augen verdrehen, weil sie sich selbst so im Weg steht. Aber über allem muss ein ganz starkes Gefühl stehen, das den Grundton bestimmt.

Für mich ist das Bewunderung. Bewunderung, die ehrlich ist und von innen kommt. Deshalb funktionieren großkotzige, aufgesetzte Helden für mich ebenso wenig wie passive Underdogs, denen der Prinz zufliegt. Ich will spüren, wie jemand innerlich ringt und über sich hinauswächst. Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis: Ich stehe unglaublich auf Leidensszenen. Aber nicht aus Masochismus und schon gar nicht aus Sadismus heraus, sondern genau wegen dieses Ringens. Wenn eine schwache Figur leidet, weckt das zwar meinen Beschützerinstinkt, aber es wühlt mich lange nicht so auf, wie wenn die starke, charismatische Figur den Boden sieht.

Die Entwicklung der Geschichte darf das Charisma nicht zerstören

Was aber, wenn die Figur sich entwickelt, wie es ja ein ordentlicher Charakter im Laufe eines Romans soll? Läuft sie dann Gefahr, ihr Charisma zu verlieren? Deshalb solltest du das vorherrschende Gefühl unbedingt kennen. Wenn deine Figur auf Bewunderung angelegt ist, darf sie nicht am Ende des Romans zum Allerweltstypen werden.

Ich las neulich eine Trilogie, in der ich mit Lucifer einen eindeutigen Liebling hatte. Er war dunkel und charismatisch angelegt, weit charismatischer als die Heldin des Buches. Zugegeben, ich gehöre nicht wirklich zur Zielgruppe der Autorin, die meisten identifizieren sich mit dem jungen, mutigen Mädchen. Doch auch in ihrer Facebook-Gruppe war ganz klar, dass die Faszination der meisten Leserinnen Lucifer galt. Der Autorin war eine unglaublich charismatische Figur gelungen. – Und dann zerstörte sie eine wirklich grandiose Geschichte auf den letzten Metern. Lucifer mutiert nämlich vom Charismatiker zum kitschigen Waschlappen. Auch ich hatte mir ein Happy End gewünscht, aber doch nicht so!

Es kommt vor, dass die charismatische Figur nicht der  Protagonist ist, und das muss sie auch nicht zwangsläufig sein. Sehr gut funktioniert sie als Love Interest oder Mentor. Doch bei aller Liebe für den Helden, gerade eine Figur mit immenser Ausstrahlung muss diese Ausstrahlung bis zum Schluss behalten. Sieh dir daher unbedingt an, welchem Typ diese Figur entspricht. Wounded Heroe, Underdog, Bad Boy, Heros, Exot usw. In diesen Typus verlieben sich deine Leser. Lass ihnen ihre Liebe!

Sterben ist besser, als den Mythos zu demontieren

Und wenn du die Kurve nicht kriegst? Manchmal ist der Tod einer Figur die bessere Lösung. Natürlich muss dieser Tod im Verhältnis zu diesem großartigen Charakter stehen, er verdient unbedingt eine beeindruckende letzte Szene. Was habe ich schon Tränen vergossen, weil Charismatiker starben! Ich habe ganze Romane vergessen, doch diese Figuren und meine Verzweiflung blieben mir im Gedächtnis und ich spüre sie heute noch wie damals beim Lesen. Bevor du faszinierende Figuren zerstörst, setze ihnen lieber ein Denkmal!

 

Was bedeutet Charisma für dich, wann kannst du dich der Ausstrahlung einer Figur nicht entziehen? Und welches Gefühl soll in deinem Roman vorherrschen? Ich wünsche dir ganz viel Freude und prickelnde Momente mit deinen Figuren. Genieße das Schreiben!

Deine Barbara

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