Wie kannst du in einem Dialog die Leser am Innenleben mehrerer Figuren teilnehmen lassen? Die Sehnsucht danach beobachte ich immer wieder, und scheinbar lässt sich diese Frage in einem einzigen Satz beantworten. Aber nur scheinbar. Denn in Wahrheit ist das Innenleben von Figuren eine äußerst trickreiche Sache, gerade im Dialog.
Nehmen wir zur Veranschaulichung das Beispiel von Martin:
»Ich wünsche mir einen Beitrag zu folgendem Thema: Ein Dialog mit mehreren Hauptfiguren, bei dem ich den Leser am Innenleben der einzelnen Figuren teilnehmen lasse. Also die Figuren denken anders, als sie es durch Gesagtes oder Mimik zum Ausdruck bringen. In meinem aktuellen Romanprojekt manipuliert die Antagonistin die beiden Protagonisten. Ich möchte sie für den Leser klar denken lassen was sie wirklich plant und auch die Protagonisten sich ihre Gedanken (Misstrauen erwacht) machen lassen, während sie sich unterhalten.«
Inhalt
Auktorialer Erzähler
Die einfache Antwort: Für diese Aufgabe brauchst du einen auktorialen Erzähler. Das ist der Erzähler, der allwissend über dem Geschehen schwebt, jeden Gedanken und jedes einzelne Ereignis kennt und kommentiert. Ihm bleibt nichts verborgen und natürlich weiß er bestens über diese Gedanken und Absichten Bescheid. Er könnte also seine Kommentare abgeben, und wir Leser kennen uns bestens aus. Das hat nur einen gravierenden Nachteil.
Viel spannender ist es doch, selbst draufzukommen, was die Figuren im Schilde führen. Außerdem ist diese Erzählhaltung längst überholt und wirkt ziemlich altbacken.
Die Wahl der richtigen Erzähl-Perspektive
Je näher du deinen Figuren bist desto leichter machst du deinen Lesern die Identifikation. Und genau die Identifikation ist es, die sie in den Text hineinzieht. Wenn ein Leser bei der Lektüre den Eindruck hat, nicht in der Beobachterrolle von außen draufzuschauen, sondern selbst die Figur zu sein, hast du gewonnen. Dann packst du ihn nämlich nicht bei seinem Verstand, sondern bei seinem Gefühl, und er versinkt ganz tief und engagiert in der Geschichte.
Um den Figuren möglichst nahe zu kommen, musst du den Standpunkt des Allwissenden verlassen und aus ihrer Sicht erzählen. Ob du das in Form einer Ich-Erzählung oder aus der Personalperspektive heraus machst, bleibt dabei dir überlassen. Beides hat Vor- und Nachtteile. In diesem konkreten Fall bleibt dir abgesehen vom auktorialen Erzähler ohnehin nur eine einzige Möglichkeit: die wechselnde Personalperspektive.
Headhopping macht deine Leser konfus
Du kannst also in die Köpfe der einzelnen Perspektivträger springen. In Martins Beispiel handelt es sich um Hauptfiguren. Zwei Protagonisten, eine Antagonistin, alle bieten sich als Perspektivträger auch an. Allerdings birgt das unkontrollierte Herumspringen die Gefahr, deine Leser aus dem Text zu katapultieren, weil sie sich nicht auskennen, wer sie im Moment sein sollen. Damit verhinderst du gerade das, was du erreichen willst, nämlich die Identifikation. Bleib in einer Szene daher möglichst bei einem einzigen Perspektivträger.
Aber dann kann ich doch nicht das Innenleben der anderen schildern! Stimmt. Doch musst du das überhaupt? Muss man wirklich alle Gedanken kennen? Warum eigentlich? Ein Dialog ist nichts anderes als eine Szene, er braucht daher einen Spannungsbogen. Am Ende des Dialoges muss etwas anders sein als zu Beginn, sonst hättest du ihn dir nämlich sparen können. Der erste Schritt ist daher, dir Klarheit über das Ziel dieser Szene zu verschaffen.
Verdirb deinen Lesern nicht die Spannung!
Worum geht es dir im Dialog? Nein, ich meine damit nicht den Inhalt, sondern seine Auswirkung auf die Geschichte und deine Leser. Damit sie das Buch nicht zur Seite legen, musst du immer mindestens eine Frage offen lassen. Doch welche Frage soll das sein, wenn du bereits alle Karten auf den Tisch legst? Der Trick beim Pageturner ist, den einen Spannungsbogen zu schließen und währenddessen gleich den nächsten aufzumachen.
Ist es wichtiger, dass die Antagonistin manipuliert und geheime Hintergedanken hegt, oder dass die Protagonisten sofort Verdacht schöpfen? Was wird deine Leser wohl mehr beunruhigen? Du merkst schon, worum es bei der Frage eigentlich geht: um die Informationssteuerung. Und bei der Informationssteuerung solltest du immer an den Genuss deiner Leser denken. Natürlich ist es schwer, als Leser (und manchmal auch als Autor) die Spannung auszuhalten, aber sie ist das wichtigste Motiv, weiterzulesen.
Wessen Innenleben verspricht im Dialog am meisten?
Ich würde in unserem Beispiel die Perspektive der Antagonistin wählen. Als Leser begreifen wir nämlich sofort »Vorsicht, Gefahr!« und Angst ist ein extrem starkes Gefühl. Jetzt wollen wir unbedingt wissen, ob die Protagonisten auf das Spiel der Gegenspielerin hereinfallen oder ob sie es rechtzeitig durchschauen!
Du gibst der Gegenspielerin die Perspektive und lässt uns in Form von inneren Monologen oder erlebter Rede an ihren Gedankengängen teilhaben. Wir Leser haben damit denselben Wissensstand wie sie und beobachten genauso ängstlich wie sie die beiden Protagonisten. Ziehen sich deren Augenwinkel zusammen? Wie verändert sich deren Körperhaltung? Haben sie etwas mitbekommen?! Lass doch Leser und Antagonistin gleichermaßen im Dunkeln tappen und lüfte nur die allernotwendigsten Geheimnisse.
Im Dialog verrät die Körpersprache viel über das Innenleben
Ein Dialog wird nicht nur mit den Zungen geführt, sondern auch der Körper spricht Bände. Mimik, Gestik, sie verraten oft mehr, als wir uns eingestehen, und ein guter Unterhändler oder Psychotherapeut achtet auf die Körpersprache mindestens ebenso wie auf die Worte. Überlege dir daher, was man alles zeigen kann. Spontane Reaktionen, aber auch Übersprungshandlungen. Nervosität drückt sich aus, indem man beispielsweise mit einem Kugelschreiber oder einem Ohrring spielt. Unsicherheit ebenso. Unerfahrene Menschen greifen sich beim Lügen gerne an die Nase. Vieles weißt du sicher intuitiv, doch vielleicht magst du einmal in einem Buch über Körpersprache schmökern?
Benutze das Setting und die Requisiten
Sitzen die Figuren an einem Konferenztisch? Schreiben sie zügig auf ihre Notizblöcke oder kritzeln sie Achterschleifen? Schieben sie ihre Wassergläser ins gegnerische Revier oder versuchen sie durch einen Blick aufs Handy aus der Situation auszubrechen? Möglicherweise sortieren sie ihre Unterlagen, schaukeln scheinbar lässig mit ihren Stühlen – die urplötzlich zum Stillstand kommen. Figuren halten sich in einem Raum auf, nicht nur an einem fixen Punkt. Wie bewegen sie sich? Auch die Choreografie kann Bände sprechen und die geheimsten Gedanken offenbaren.
Was der Leser sieht, können auch die Mitspieler der jeweiligen Figur wahrnehmen. Du musst also in zweifacher Hinsicht mit deinen Geheimnissen jonglieren. Diejenigen, die gegenüber anderen Figuren auf keinen Fall gelüftet werden dürfen, kannst du nicht durch Zeigen enthüllen.
Wenn das Wesentliche zwischen den Zeilen steht
Das Interessanteste an einem Dialog ist nicht immer das, was ausgesprochen wird. Das wirklich Spannende ist der Subtext. Das, was die Figuren eigentlich meinen. Klingt logisch, doch wie bekommst du Subtext in deinen Dialog?
Halte dir beim Schreiben die Ziele der Figuren vor Augen. Das, was sie wollen und tatsächlich denken. Die beiden misstrauischen Protagonisten denken möglicherweise »was für eine falsche Schlange«, vereinbaren aber liebenswürdig ein Abendessen mit ihr. Du kennst das doch auch, wenn du aus Höflichkeit oder Kalkül deine wahren Gedanken nicht aussprichst. In diese Stimmung versetze dich, wann immer du ihre Replik schreibst. Durch deine dadurch entstehenden Gefühle wird sich der Subtext zum Teil von selbst ergeben.
Subtext erkennt man an den Widersprüchen
Wenn dein Dialog sich so glatt und reibungslos präsentiert wie die Glasur einer makellosen Sachertorte, mag er vielleicht elegant geschrieben sein, reißt aber nicht mit. Wie auch bei Figuren machen es in einem Gespräch die Brüche, Risse und Kanten aus. Baue Widersprüche ein, die die Figuren entlarven. Je nachdem wie aufmerksam die anderen Figuren sind, werden sie diese Ungereimtheiten bemerken oder auch nicht. Jemand, der wirklich manipulieren kann, beobachtet seine Mitspieler sehr einfühlsam und genau. Jemand, der nur auf sich selbst fokussiert ist, scheitert schon in der ersten Runde, weil er solche Anzeichen übersieht. Je sorgfältiger du deine Charaktere angelegt hast desto breiter gefächert sind deine Möglichkeiten.
Du kannst also den einfachen Weg gehen, als allwissender Erzähler deine Leser informieren und deine Trümpfe sofort herzeigen. Oder du bluffst und treibst das perfide Spiel auf die Spitze. Welche Variante ist dir lieber? Welche auch immer du wählst, ich wünsche dir viel Spaß beim Schreiben!
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