
Perfektionismus bedeutet, sein Werk zu lieben
Einer Perfektionistin zu sagen, sie solle den Perfektionismus an den Nagel hängen, weil er ihr schadet, empfinde ich als reichlich zynisch. Warum ich das so genau weiß? Weil ich selbst eine bin. Und deshalb weiß ich auch, was die wohlmeinenden Ratgeber meistens verschweigen: Perfektionisten beziehen aus dem Perfekten Lust. Nein, es ist kein Hemmschuh, es sei denn, man betet einen anderen Gott an. Den Gott namens Effizienz.
Inhalt
Willst du Effizienz oder Zufriedenheit?
Perfektionismus und Effizienz ziehen am selben Strang, doch leider nicht auf derselben Seite. Ist der Apostel der Effizienz nicht besser beraten? Klüger? Das kommt darauf an, was du willst. Ja, auch ich kenne das Pareto-Prinzip und weiß, dass man mit 80 % schon sehr weit kommt. Und dass nur 20 % an Energie, Einsatz, Geld, Kunden, was auch immer, notwendig sind, um diese 80 % zu erzielen. Aber machen diese 80 % dich auch glücklich?
In einer Welt, in der Quantität über Qualität siegt, mögen sie gewisse Vorteile bringen, aber eines können sie nicht aufwiegen: mein sattes, wohliges, zufriedenes Gefühl, wenn ich auf das fertige Werk schaue. Das ist es nämlich. Es geht nicht um den Output, um wirtschaftliche Kriterien, sondern ums Werk. Um die Liebe zum Werk.
Aber nur mit Liebe wird man doch nie fertig?
Eine Perfektionistin oder ein Perfektionist – es ist nämlich dabei ganz egal, zu welchem Geschlecht du dich zählst – hat eine ganz besondere Einstellung zum Werk. Liebe. Perfektionismus bedeutet, das Werk zu lieben. Was genau willst du? Sechs Romane im Jahr schreiben oder einen und den mit voller Hingabe?
Ich weiß schon, die Effizienzprediger meinen es nur gut. Sie wollen dich unterstützen, mit deinem Roman an die Öffentlichkeit zu gehen, statt ihn aus Angst vor Fehlern zum hundertsten Mal nachzubessern oder gar in der Schublade verstauben zu lassen. Sie haben nicht komplett unrecht, irgendwo muss auch der Perfektionismus seine Grenzen haben.
Perfektionismus begegnest du nicht mit Nachlässigkeit, sondern mit Mut
Einer meiner Professoren auf der Uni nannte das den Mut zur Lücke. Das klingt aber doch gleich ganz anders als »Perfektionismus ist schlecht« oder »Vertrödel dich nicht!« Das klingt nicht nach husch-husch hinpfuschen, sondern – na eben nach Mut. Das kann auch ich annehmen.
Mein Professor sprach von Lücke, wohlgemerkt, nicht von einem klaffenden Riss. Mut ist weder Achtlosigkeit noch Nachlässigkeit und schon gar nicht Tollkühnheit. Mut sieht ein Risiko und geht es ganz bewusst ein. Gemeint ist damit, sich nicht drei weitere Wochen lang in der Recherche zu einem Absatz zu verzetteln, dem du ohnehin schon zwei gewidmet hast. Mut schätzt ab und trifft eine Entscheidung. Mit Mut springst du über deinen Perfektionismusschatten, aber du donnerst nicht blind gegen die Wand.
Schreiben soll dir Lust bereiten
Ich breche eine Lanze für deinen Perfektionismus, weil er deinem Roman gut tut und letztendlich auch dir. Wenn du nach dem richtigen Wort, nach dem richtigen Ausdruck suchst, dann widmest du dich deiner Geschichte auf eine Weise, die sich nicht in Euros messen lässt.
Woraus beziehst du die Lust am Schreiben? Das ist vermutlich zum einen das Erzählen und Vorantreiben der Geschichte selbst. Das Herumspinnen und Tüfteln, das Was-wäre-wenn. Das Ausloten verschiedener Möglichkeiten und tiefer Gefühle. So tief, wie du es dich im realen Leben vielleicht gar nicht immer traust. Das braucht Zeit, und diese Zeit selbst ist der Gewinn. Es ist die Auszeit, die du dir gönnst.
Spielen und Hingabe brauchen Zeit
Woraus beziehst du noch Lust? Aus dem Spielen mit deinen Figuren. Für die Lust ist es nicht einmal so wichtig, ob du dich mit ihnen identifizierst oder dich in sie verliebst. Apropos verlieben: Hast du schon einmal in einer Beziehung das Pareto-Prinzp oder andere Effizienzkriterien angelegt? Während du in der Rosa-Wolken-Phase bist?
Das ist nämlich genau die Phase, in der wir unsere besten Geschichten schreiben. Wenn wir uns am liebsten Tag und Nacht mit ihnen befassen würden. Was heißt würden? Wir tun es doch! Diese Phase wird nicht von »Ich möchte ganz schnell fertig sein« getrieben, sondern von »Ich will jeden Moment auskosten«. Das ist der Flow. Perfektionismus und Flow gehen Hand in Hand.
Flow entsteht durch Achtsamkeit, durch Hingabe ans Tun. Und wenn deine Hingabe im liebevollen Suchen nach dem richtigen Wort besteht, dann ist es eben so. Erst wenn dich diese Suche zu hemmen beginnt, wenn die Lust der Qual weicht, läuten die Alarmglocken. Dann ist es Zeit, den Perfektionismus für einen Moment zur Seite zu schieben. Du kannst ja später überarbeiten.