Bist du ein Grammatikfreak? Wer schreibt, ganz egal, in welcher Sprache er es tut, sollte seine Sprache nicht vergewaltigen, und eine zu nachlässige Auslegung der simpelsten Grammatikregeln hat mir schon so manchen Text vermiest. Es gibt aber auch Ausnahmen, wo der Rotstift des Lehrers kontraproduktiv ist oder ein unsensibler Lektor deinen Text zwar grammatikalisch korrekt setzt, aber dadurch vollkommen ruiniert. Sehr hoch ist das Risiko bei den Zeitformen. Was hast du davon, wenn du die Zeitenfolge einhältst, dein Roman aber dadurch zäh wird wie Kaugummi? Besser, du nimmst die Grammatik in deinen Dienst und orientierst dich an der Wirkung.
Inhalt
Erzählt wird im Präteritum – oder auch nicht
So lernten wir es zumindest brav in der Schule. Das Präteritum (oder Imperfekt, Mitvergangenheit) trägt uns über weite Strecken in einem Roman, nicht umsonst beginnt eine Märchenerzählung, die etwas auf sich hält, mit »Es war einmal …« Wenn du viel liest, geht dir das Präteritum bald in Fleisch und Blut über, es ist geschmeidig, elegant und es schafft in Sekundenschnelle, dich von der Gegenwart in die Erzählung zu ziehen.
Aber niemand schreibt dir vor, alles, was zwischen zwei Buchdeckeln steckt, ins Präteritum zu setzen. Du kannst eine Geschichte genauso gut im Präsens erzählen. Wenn es dir Spaß macht, sogar im Futur, obwohl der ständige Gebrauch der Zukunft deine Leser auf eine harte Probe stellen wird. Anders als bei der Schularbeit gibt es beim Roman keine Vorschrift, die Wahl der Erzählzeit fällt unter künstlerische Freiheit.
Freiheit verlangt Entscheidung
Es gibt Situationen und Passagen in deinem Roman, die in einer anderen Zeitform besser wirken. Das Präteritum hat nämlich noch einen Nebeneffekt: Es sorgt für Distanz. »Es war einmal …« hat mit der Gegenwart des Lesers nichts zu tun, es ist ja »nur« eine Geschichte. Vergangen, vorbei und nicht mehr zu ändern. So wie die Mitvergangenheit deinen Leser aus seinem Alltag herausreißt, so ermöglicht sie ihm auch, sich seinen eigenen Platz im Verhältnis zum Text zu suchen. Meistens wirst du ihm dieses Recht zugestehen, manchmal wirst du es ihm aber auch bewusst nehmen.
Oh Gott, redet der gestelzt!
Das kannst du sehr gut bei Vorträgen oder Referaten beobachten, mein Neffe war dafür lange ein Paradebeispiel. Wenn eine Geschichte mündlich vorgetragen wird, dann ist das Präteritum so etwas von gekünstelt, ja streberhaft, dass das Zuhören anstrengend ist und richtig wehtut. Stell dir mal vor, dein Kind erzählt dir von einer Rauferei in der Schule:
Der Fritz verpasste dem Karl eine Ohrfeige, und der lief sofort zur Frau Lehrerin. Die Frau Lehrerin trug den Fritz daraufhin ins Klassenbuch ein und schickte ihn dann zum Direktor. Der hielt dem Fritz eine Standpauke und telefonierte mit seiner Mutter, aber der Fritz lachte in der Pause nur blöd und nannte den Karl eine doofe Petze.
Welches Kind redet so? Welcher Erwachsene redet so, wenn er nicht gerade einen schriftlichen Bericht über den Zwischenfall verfasst? Die mündliche Erzählung würde wohl eher so klingen:
Der Fritz hat dem Karl eine Ohrfeige verpasst, und der ist sofort zur Frau Lehrerin gelaufen. Die Frau Lehrerin hat den Fritz gleich ins Klassenbuch eingetragen und zum Direktor geschickt. Der hat dem Fritz eine Standpauke gehalten und seine Mama angerufen, aber der Fritz hat in der Pause nur blöd gelacht und den Karl eine doofe Petze genannt.
Reden funktioniert anders als schreiben
Zumindest im süddeutschen Raum verwendet man in der mündlichen Erzählung das Perfekt (die Vergangenheit) statt des Präteritums. Mache dir das in deinen Texten zunutze! In meinen Blogbeiträgen und noch öfter in den Newslettern verwende ich das Perfekt, um einen natürlicheren, gesprocheneren Eindruck zu erwecken. Dadurch hast du das Gefühl, dass ich unmittelbar mit dir rede, dir gegenüberstehe und wir miteinander plaudern.
Im Roman eignet sich das für die Erzählerstimme weniger, obwohl es auch hier kein Verbot gibt. In einem Mundart-Roman könnte das Perfekt sogar recht gut passen. In jedem Roman spielt die Erzählzeit aber eine Rolle, sobald eine Figur den Mund aufmacht. Oder denkt. Beobachte einmal deine eigene Gedankenrede, denkst du da grammatikalisch korrekt? Oder doch so, wie dir der Schnabel gewachsen ist? Wenn du innere Monologe oder erlebte Rede schreibst, dann tu das in der Sprache und in der Zeitform der Figur.
Charakterisiere deine Figuren durch die Zeitform, die sie benutzen. Lass saloppe Figuren im Perfekt erzählen und nur sehr hohe, gebildete Leute im Präteritum. Auch ob eine Figur altmodisch ist, kannst du durch das Präteritum ausdrücken, ein fünfhundert Jahre alter Vampir darf gestelzter sprechen als ein Gangmitglied aus der Bronx. Der bodenständige Kommissar weiht seinen Assistenten im Perfekt in die Vorkommnisse der letzten Nacht ein, während die Fabrikantengattin beim Teekränzchen mit den anderen Oberschichtladys dasselbe Ereignis in der Mitvergangenheit schildert.
Ähnliches gilt übrigens auch für den Konjunktiv. »Wenn ist würdelos« lernten wir noch in der Schule, doch der Kommissar schert sich einen Dreck drum. Der Vampir oder der gebildete Mann aus dem 18. Jahrhundert werden den Konjunktiv hingegen so geschmeidig einsetzen, dass er nicht einmal auffällt.
Rückblenden sind immer heikel
Aber zurück zum Erzähler. Manchmal ist es ratsam, eine Geschichte nicht streng chronologisch zu erzählen, und du holst Backstorys in Form von Rückblenden nach. In den Erzählfluss fügen sich solche Rückblenden am besten in Form von Gedankenreden oder Dialogen ein, womit für die Zeitform wieder die Figurenrede gilt. Doch wenn du die Rückblenden mit der Erzählerstimme machst, sitzt du zwangsläufig in der Plusquamperfekt-Falle.
Warum Falle? Die Zeitenfolge schreibt vor, dass alles, was vor dem Perfekt oder dem Präteritum liegt, ins Plusquamperfekt (die Vorvergangenheit) gesetzt wird. Nur hat dieses Plusquamperfekt im Deutschen die lästige Eigenart, dass es in 95 % der Fälle mit »hatte« und in den restlichen 5 % mit »war« gebildet wird.
Er hatte gesungen, während sie auf einem Stuhl im improvisierten Musikzimmer gesessen war (norddeutsch: gesessen hatte). Doch sein Gesang war so uninspiriert gewesen, dass sie es vorgezogen hatte, in Gedanken erst die Einkaufsliste zusammenzustellen. Im Anschluss hatte sie das Büffet geplündert, hatte in ihrer Verzweiflung zu viel Champagner in sich hineingeschüttet und hatte die erste Gelegenheit ergriffen, von der langweiligen Party zu verschwinden.
Du merkst schon, die Wortwiederholungen sind vorprogrammiert. Dem kannst du nur dadurch entgehen, dass du im ersten Satz den Zeitenwechsel durch das Plusquamperfekt markierst und dann im Präteritum weiterschreibst. Am Ende der Passage brauchst du ein ebenso deutliches Signal, um in die Erzählgegenwart zurückzukehren.
Das historische Präsens macht einen Text lebendig
Es gibt Autoren und Leser, die das Präsens (die Gegenwart) überhaupt nicht mögen, ich hingegen bin ein großer Fan davon. Der Grund dafür liegt in der Unmittelbarkeit. Oben habe ich dir gesagt, dass das Präteritum dem Leser Distanz ermöglicht, wenn du diese Distanz verhindern willst, dann wechsle ins Präsens. Probiere es einmal, schreib eine Verfolgungsjagd, eine Kampf- oder Actionszene erst im Präteritum und dann setze sie ins Präsens. Wo fieberst du mehr mit? Bei welcher Verfolgungsjagd kommst du selbst außer Atem, wo schwingst du selbst Schwert oder Degen? Kannst du dich dem Gefühl einer Liebesszene entziehen, die in der Gegenwart steht? Mit dem Präsens nimmst du den Filter weg, näher kannst du deinen Leser gar nicht an deine Figur und ans Geschehen heranrücken.
Die Kunst liegt im Wechsel
Wenn du unterschiedliche Zeitformen einsetzt, gibst du deinem Roman Kontur, ja mehr noch, er wird plastisch. So wie wenn du als Maler eine Leinwand nicht einfach flächig anstreichst, sondern deinem Gemälde mit Lichtpunkten und Schatten Tiefe verleihst. Wenn du unterschiedliche Zeitformen in deinem Roman einsetzt, steuerst du Tempo, Stillage und Distanz. Die Schwierigkeit liegt dabei in den Übergängen, doch für die kann ich dir leider weder Tipps noch Regeln geben. Hier hilft nur ausprobieren, Satz für Satz. Du kannst nicht alles mit dem Kopf schreiben, hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Wie ein Geiger die Saiten der Violine ganz exakt stimmt, musst auch du die Wirbel in deinem Text um Nuancen drehen. Wenn ich die Zeiten wechsle, schreibe ich den betreffenden Absatz in unzähligen Varianten, so lange bis Klang und Erzählfluss stimmen.
Nach dem letzten Satzzeichen
Und zu guter Letzt: Wenn du in der realen Gegenwart des Lesers bist, dann schreibst du im Präsens. Das gilt für direkte Leseransprachen ebenso wie für die Texte rund um deinen Roman. Über ein literarisches Werk selbst spricht man immer in der Gegenwart, das gilt für die Rezension ebenso wie für den Klappentext oder das Exposé.
Ich wünsche dir viel Spaß beim Ausprobieren und Experimentieren. Und natürlich viel Spaß beim Schreiben!
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